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Ausstellung "Humans of Stuttgart"

Stuttgart braucht mehr Hocker

Ausstellung "Humans of Stuttgart": Stuttgart braucht mehr Hocker
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Sie bereichern nicht nur das Stadtbild, sie haben in oft schwierigen Situationen viel Lebenserfahrung angesammelt: Mit einer Ausstellung und einem Buch macht der Verein "Literally Peace" die Vielfalt der Menschen in Stuttgart sichtbar.

Maria Tramountani spricht schnell, nicht sehr laut, sie formuliert knapp und pointiert. Schon in der Grundschule hat sie angefangen, Geschichten zu schreiben, später auch Gedichte. Tramountani ist Gründerin und Vorsitzende des Vereins "Literally Peace", der jeden Monat zwei Schreibwerkstätten anbietet: eine vor Ort in Stuttgart, die andere online auf Arabisch. Literally heißt "im Wortsinn", klingt aber fast wie literary, literarisch.

Der Verein hat soeben ein Buch veröffentlicht, verbunden mit einer Ausstellung im Stadtpalais: "Humans of Stuttgart". Ausgangspunkt war das Projekt "Humans of New York" des Fotografen Brandon Stanton. New York gilt als Melting Pot, als Schmelztiegel verschiedener Kulturen. Auch in Stuttgart leben Menschen aus aller Herren Länder, auch wenn es manchmal einfacher erscheint, sich auf Schwaben-Klischees zurückzuziehen. Die reale Vielfalt der Stadt will das Projekt sichtbar machen. "'Humans of Stuttgart' ist entstanden, weil wir die Stadt, in der wir leben, neu erzählen wollen", schreiben Anjuli Aggarwal und Hasan Malla, die das Projekt leiten, "aus der Perspektive eines Teams junger Menschen mit Migrations- oder Fluchtbiografie."

Im Buch zum Projekt sind die Fotos der Protagonist:innen mit kleinen Begleittexten versehen. "Schreiben war nie ein Hobby für mich – es war immer eine Lösung", erklärt eine junge Syrerin (die Namen der Beteiligten sind grundsätzlich nicht angegeben). "Auf dem Papier kann ich das loslassen, was ich im Gespräch nicht sagen würde. Schreiben ist mein sicherer Ort, wo ich mich frei ausdrücken kann, ohne mich verletzlich zu fühlen." In Syrien wusste niemand, dass sie schreibt. Sie habe andere nicht mit ihren Problemen belasten wollen. Doch dann: "Gestern habe ich zum ersten Mal etwas geschrieben, was ich danach mit anderen Menschen geteilt habe. […] Dieses Mal habe ich den Mut gefunden, weil ich etwas Abstraktes geschrieben habe, so dass nur ich die volle Bedeutung und die Verbindung zu mir kenne. Es war also immer noch privat, aber trotzdem konnte ich mich anderen öffnen. Das war eine sehr schöne Erfahrung für mich."

"Ich habe mein Zuhause, meine Freunde und meinen Job verloren", sagt ein Mann, ebenfalls aus Syrien. "Ich musste in einem kleinen Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland übersetzen. Es war überfüllt und unsicher, aber wir gaben uns gegenseitig Hoffnung. Ich war einer der ersten, die diese Reise machten, lange bevor es üblich wurde." Die beschwerliche Odyssee hatte auch eine lehrreiche Seite, betont er: "Diese Erfahrung hat mich gelehrt, dass nichts im Leben umsonst ist. Ich habe gelernt, vorsichtig zu sein, wem ich vertraue – einige Menschen verschwanden, als es schwierig wurde. Aber diejenigen, die geblieben sind, die gegeben haben, obwohl sie nichts hatten, sind für mich die Crème de la Crème der Menschheit."

"Literally Peace" ist aus einem Schreibwettbewerb in Barcelona entstanden. Maria Tramountani hatte englische Literatur und Ethnologie, dann im Masterstudium Interkulturalität und Integration studiert, während sie bereits mit jungen Geflüchteten arbeitete. In Barcelona lernte sie einen Syrer kennen und sie entdeckten ihre gemeinsame Liebe zur Literatur. "Wir waren auf einer Wellenlänge", sagt sie. Aus einem syrisch-deutschen Autor:innenkollektiv wurde erst die Initiative, dann der Verein "Literally Peace". Der Frieden im Titel bezieht sich auf die Hoffnung, der Bürgerkrieg könnte enden und in Syrien wieder Frieden einkehren – und nicht nur dort.

"Der Krieg in der Ukraine änderte alles", berichtet eine abgebildete Frau, "denn ich verlor Identitäten und erhielt viele neue." Unter anderem aufgrund der Sprache: "Der Deutschsprachkurs gab mir eine neue Identität – die einer Deutschlernenden. Obwohl ich meinen sprachlichen Fortschritt jeden Tag beobachten kann, wurden selbst einfache Dinge wie die Suche nach einer Schöpfkelle für Borschtsch zur Herausforderung und zeigten, wie sehr sich das Leben an einem neuen Ort ändern kann." Sie hat schreckliche Dinge erlebt wie den Suizid ihres Sohnes, wovon sie in einfachen Worten erzählt. Ihr Fazit: "Jeder Mensch erlebt im Laufe seines Lebens Veränderungen seiner Identität. Das Wichtigste ist, diese Veränderungen zu managen und neue Rollen anzunehmen."

"'Familie bedeutet Liebe, Werte und Vertrauen – nicht Blut', antwortete ich einmal jemandem, der meine weißen Kinder sah und mich fragte, warum ich denn nicht meine eigenen Kinder mache", betont eine Frau, deren Herkunftsland nicht angegeben ist. "Ich bin Mutter von fünf Kindern – meinem leiblichen Sohn, meinen Adoptivtöchtern aus Kenia, meinem halb-nigerianischen Pflegekind und zwei Pflegekindern aus Deutschland. Wir haben letzte Weihnachten alle zusammen verbracht und ich war so dankbar." Inzwischen sind die Kinder erwachsen und sie träumt von einem Afro-Bazar, "an dem sich Menschen willkommen fühlen und afrikanische Gastfreundschaft erleben können". Jungen Frauen rät sie: "Eröffne nicht gleichzeitig ein neues Geschäft und eine Band, während du die Scheidungspapiere einreichst!"

Manche Geschichten handeln von anderen Welten. Ein Mann aus dem tschetschenischen Bergdorf Itum-Kali ist im Alter von 14 Jahren zusammen mit einem Cousin in die Berge gekommen, um Kühe zu hüten. Fünf riesige kaukasische Schäferhunde halfen ihnen, die Herde zusammenzuhalten. "Nachts gingen wir dann in die alten Militärzelte, unsere Schafsfelle sollten uns warmhalten. Alle paar Stunden musste geschossen werden, damit sich Bären und Wölfe nicht zu nah an die Herde wagten." Dann musste einer einen neuen Weideplatz auskundschaften, der andere zurück ins Dorf, Proviant holen. Nebel zog auf. "Die Stunden danach waren unerträglich, bereits nach 15 Minuten wurde ich im Nebel fast verrückt. Als ich wieder bei den anderen war, ließ ich mir von meiner Angst natürlich nichts anmerken."

Anders als bei anderen Projekten von "Literally Peace" geht es bei "Humans of Stuttgart" nicht darum, eigene literarische Texte zu verfassen, sondern zuzuhören, was andere Menschen, gleich welcher Herkunft, zu erzählen haben. 21 Beteiligte fragten Menschen, die sie kannten oder einfach auf der Straße ansprachen, nach ihren Lebenserfahrungen. Fast alle waren sofort dabei. Wie eine junge Frau, die von ihrem politischen Engagement erzählt:

"Der Terroranschlag in Hanau war der Auslöser. Meine Freund:innen und ich waren erschüttert und wussten, wir mussten handeln. Aber in Stuttgart gab es keine Gruppe, die das Thema aufgegriffen hat. Als dann George Floyd ermordet wurde, beschlossen Bekannte von mir, selbst aktiv zu werden. Sie gründeten eine politische Gruppe, und plötzlich war ich mittendrin. Wir organisierten Demos, Workshops und Kundgebungen – das Gefühl, wirklich etwas zu bewegen, war unbeschreiblich. Besonders die Arbeit mit Jugendlichen war sehr wertvoll. Diese jungen Menschen, 15, 16 Jahre alt, waren so offen, so politisch. Es war überwältigend zu sehen, wie sie nach einem Workshop von uns weitergemacht haben, wie sie unsere Themen auf Social Media geteilt haben. In diesem Moment wusste ich, dass ich etwas bewirken kann."

Eine Beteiligte wurde vom Vater oft "Namle" genannt, arabisch für Ameise, "weil ich schon als Kind sehr fleißig und zielstrebig auf meine Ziele hingearbeitet habe". Der Vater führte einen Mini-Supermarkt in Syrien, konnte aber auch Spanisch, weil er zehn Jahre lang in Venezuela gearbeitet hatte. "Der Laden war wie ein zweites Zuhause für uns. Als Kind habe ich ihn dort oft gehört, wie er mit vielen Kunden, die auch in Venezuela waren, spaßeshalber Spanisch gesprochen hat. Dabei hat er so viel gelacht. Deshalb ist Spanisch für mich eine lustige Sprache geworden." Im syrischen Bürgerkrieg wurde der Laden in die Luft gesprengt. "In dieser Zeit mussten wir alle trotz unseres Leids stark bleiben, um weiterzuleben." Um den Hals trägt sie das Wort "Namle": Die Kette ist ein Geschenk ihrer besten Freundin. "Sie erinnert mich an meinen Vater und gibt mir Kraft."

"Ich befinde mich in einer Umbruchsituation", erklärt ein junger Mann, der seit einem halben Jahr wieder in Stuttgart lebt, zuvor hat er im Westjordanland Kindern und Jugendlichen Skateunterricht gegeben. "Der Israel-Palästina-Konflikt ist natürlich eine riesige Belastung für sie. Die Idee dahinter war, ihnen ein Ventil zu geben – gerade palästinensischen Kids. Dass sie skaten gehen und da ihren Frust rauslassen können." Auch für Stuttgart hat er einen Rat. "Es ist schade, dass wir nicht so eine Kultur haben, in der man sich einfach auf die Straße setzt und mal schaut, was passiert … Den Tag auf sich zukommen lässt. So entsteht nämlich eine Gemeinschaft. Für viele Menschen ist Einsamkeit ein großes Thema, vor allem im Alter." Er kommt zu dem Ergebnis: Stuttgart braucht mehr Hocker, "auf denen man gerade auch im Sommer draußen sitzen und mit den Nachbarn ins Gespräch kommen kann".

"Eine Stadt ohne Geschichten ist nur ein Ort", steht auf einer Postkarte zur Ausstellung im Stadtpalais, die zeigt, welcher Reichtum an Geschichten sich in Stuttgart verbirgt. Das ist der Begeisterung und dem Engagement junger Menschen wie Maria Tramountani zu verdanken. Doch ganz ohne Förderung, ohne zwei, drei Minijobs, wäre ein Projekt wie "Humans of Stuttgart" nicht zu stemmen.

20.000 Euro erhält der Verein von der Stadt – jedenfalls noch bis Ende des Jahres. "Ohne die Weiterführung der Grundsicherung", hält das Kulturamt in seiner Haushaltsvorlage fest, "steht der Verein grundsätzlich vor dem Scheitern." 20.000 Euro: ein lächerlicher Betrag im milliardenschweren Stuttgarter Haushalt. Ungefähr 25.000 mal so viel ist nötig, um die Sparziele zu erreichen. Die sachkundigen Bürger im Kulturausschuss haben daher gefordert, eine Bagatellgrenze einzuführen: für Einrichtungen, an denen sich kaum etwas sparen, nur viel kaputt machen lässt.


Die Ausstellung "Humans of Stuttgart" im Stadtpalais Stuttgart läuft bis 30. November, geöffnet von Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr, freitags bis 21 Uhr. Das gleichnamige Buch ist erschienen im soeben mit dem Deutschen Verlagspreis ausgezeichneten Stuttgarter Verlag Prima Publikationen und kostet 25 Euro.

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