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Grüner Landesparteitag

Die Basis rettet das Programm

Grüner Landesparteitag: Die Basis rettet das Programm
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Die Spitze der baden-württembergischen Grünen wollte um ihr Wahlprogramm eine Wagenburg bauen. Öffentliche Diskussionen waren unerwünscht. Doch der Druck von unten wurde zu groß. Jetzt sind alle Änderungsanträge öffentlich – allein zur Bildungspolitik sind es 165.

Es geht um viel mehr als die Programmatik einer Partei, die nach 15 Jahren weiterhin den Ministerpräsidenten stellen will. Mitte Dezember berät ein Landesparteitag der Grünen in Ludwigsburg über die Zukunft von Kindern und Jugendlichen, über Familien und Lehrerkollegien, über die inzwischen jahrzehntealten Versprechen von Aufstieg durch Bildung, über die Einhaltung internationaler Verträge zur Inklusion. Weil der Ende Oktober vorgelegte Entwurf des Wahlprogramms konkrete Festlegungen umschifft, haben sich einzelne Mitglieder und verschiedene Gruppen zusammengetan und Anträge formuliert. Die Verbesserungswünsche stapeln sich – und sind nun plötzlich sogar digital freigeschaltet. 

Der Landesvorstand hat seinen ursprünglichen Plan aufgegeben, die Präzisierungen, die zusätzlichen Vorschläge oder Dringlichkeitsanträge bis zum Parteitag unter der Decke zu halten. Seit Dienstag können Verbände und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), Schulen, Schulträger, der Eltern- und der Landesschülerbeirat und jede:r Interessierte einsehen, wer wie den vielen zahnlosen Formulierungen zum notwendigen Biss verhelfen möchte. Thomas Poreski, Bildungsexperte in der Landtagsfraktion, freut sich über diese "grüne Schwarmintelligenz" und darüber, wie einfache grüne Mitglieder "mit inhaltlichem Biss" ihr Engagement bewiesen haben.

Vieles ist, wie üblich in grünen Antragsdebatten, kleinteilig. Manches wird dem Wahlkampf beim Thema Bildung deutlich mehr Würze verleihen. So plädiert eine über das ganze Land verteilte Gruppe von 20 Grünen-Mitgliedern aus Stuttgart, Freiburg, Ulm, Böblingen, Tübingen oder Reutlingen für eine dringend notwendige Strukturdebatte, mit der sich die Grünen deutlich von CDU und FDP abgrenzen würden – die der Landesvorstand ausweislich des Entwurfs allerdings vermeiden wollte. Ziel ist, ausdrücklich mit klarer Haltung in mögliche Koalitionsverhandlungen zu gehen und "nicht mit Anbiederung", wie eine Antragstellerin sagt. "Die Drei-/Vier-/Vielgliedrigkeit unseres Schulsystems ist nicht zukunftsfähig", steht da zu lesen, und "dass es besser geht, dafür brauchen wir gar nicht nach Kanada oder Skandinavien zu schauen, es reicht beispielsweise der Blick nach Hamburg".

Keine Reform gegen "Sortierwahn" 

Der Hinweis auf die Hansestadt ist pikant, weil Kultusministerin Theresa Schopper (Grüne) auf Wunsch des Ministerpräsidenten eigens dorthin reiste, um sich vom Primus und Aufsteiger in den Vergleichsstudien der vergangenen Jahre anregen zu lassen (Kontext berichtete). Ins neue grüne Wahlprogramm flossen die Erkenntnisse zur Weiterentwicklung der Schulen ab Klasse fünf allerdings bisher nicht ein. So ist beispielsweise nirgends die Rede vom zweigliedrigen System mit Stadtteilschulen und Gymnasien, die alle Abschlüsse bis zum Abitur anbieten. Oder vom gebundenen Ganztag als Regelform, wodurch Schulen und Schulträger Organisationsarbeit erspart bleibt, weil Ganztagsangebote für alle Kinder und Jugendliche verbindlich sind.

Schmerzlich ist für alle, die seit 2011 auf grünen Reformwillen gesetzt haben, dass die Partei schon mal sehr viel weiter war. Vor 15 Jahren wollte sie im damaligen Wahlprogramm dem "frühen Aufteilen" den Garaus machen und die Grundschulempfehlung abschaffen, weil "vor allem Kinder aus sozial schwachen und benachteiligten Elternhäusern zu Bildungsverlierern gemacht werden". Wider den "Sortierwahn" hieß das Motto damals. 2025 kommt der Reformbedarf nach der Grund- mit Haupt-, Werkreal-, Real- und Gemeinschaftsschule gleich gar nicht mehr vor. Stattdessen soll jetzt eine weitere Enquête-Kommission "einen breiten Dialog zur Weiterentwicklung unserer Schulen führen", als wäre es nicht erwiesen, dass längeres gemeinsames Lernen Kinder und Jugendliche insgesamt weiterbringt, auch jene, die von ihren Eltern so schnell wie möglich in die gymnasiale Schublade gesteckt werden.

In nicht ganz so bedeutenden Fragen liegen ebenfalls mannigfaltige Vorschläge für Nachbesserungen vor – kein Wunder bei 165 Anträgen: vom kostenlosen Mittagessen bis zur Lernmittelfreiheit, von der Teilzeitausbildung "insbesondere für Alleinerziehende und gesundheitlich beeinträchtigte Menschen" bis zur besseren Bezahlung von Grundschullehrkräften. Bekräftigt wird die grüne Uralt-Idee, Referendar:innen in den Sommerferien nicht mehr in die Arbeitslosigkeit zu schicken. Besonders bitter stößt den unzufriedenen Mitgliedern auf, dass Baden-Württemberg weiterhin die internationalen Verpflichtungen zur Inklusion und zum gemeinsamen Unterricht von Kindern ohne und mit Einschränkungen nicht umsetzt.

Anbiederung an die CDU?

Erkennbar getrübt – in den Augen von Basisvertreter:innen – ist bei den Programmverantwortlichen sogar der Blick aufs große Ganze. Im Entwurf heißt es: "Unser Land ist nicht dort, wo es hingehört – an der Leistungsspitze." Ein Änderungsantrag begehrt, jüngste Leistungsstudien in diese pauschale Bewertung aufzunehmen, denn "trotz großer Herausforderungen" habe Baden-Württemberg den Anschluss an die Spitze wiedergefunden. Tatsächlich verzeichnet das Land im jüngsten Bildungsmonitor der "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" einen Aufstieg auf Platz vier. In einzelnen Bereichen, etwa in der Beruflichen Bildung, der Digitalisierung und in der Frage, wie ein Abbruch von Ausbildungen verhindert werden kann, liegt der Südwesten sogar auf dem ersten Platz. "Mehr als kontraproduktiv" nennt es einer der Antragsteller, wenn zum Start "in den jetzt schon so konfrontativen Wahlkampf mit der CDU" solche Pluspunkte einfach nicht wahrgenommen werden. Auch die können ab sofort öffentlich diskutiert und doch noch eingearbeitet werden.

Die Grünen bundesweit haben seit der verzerrenden, von "Bild" angestoßenen Debatte um den Veggie-Day 2013 viel Erfahrung damit gemacht, wie eigene, gesellschaftspolitisch richtige Positionen bis zur Unkenntlichkeit öffentlich durch den Kakao gezogen werden. Die Konkurrenz, sagt Thomas Poreski, sei leider immer interessiert an Verhetzungsmöglichkeiten. Dennoch bleibe der jetzt gefundene Weg zurück zur Transparenz richtig.

So setzen die Landesgrünen sich zudem von der CDU ab. Landes- und Fraktionschef Manuel Hagel und sein Team machen den eigenen Programmentwurf erst auf dem Parteitag am kommenden Wochenende in Heidelberg breit zugänglich. Diesmal sei er vorab ausschließlich an die Delegierten gegangen, erläuterte eine Sprecherin der Partei nach einem Beteiligungsprozesss in der Mitgliedschaft. Da wird Geheimhaltung eben noch großgeschrieben.

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