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Daniel Schürers winzige Kunsthalle

Gebt uns das Blau zurück!

Daniel Schürers winzige Kunsthalle: Gebt uns das Blau zurück!
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Der Reustener Künstler Daniel Schürer hat sich eine kleine Kunsthalle gebaut, zitiert Martin Kippenberger und bezichtigt eine Partei des Farbmissbrauchs.

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Winzig klein sind sie und blicken auf, ins Blaue. Das Blau ist freilich längst nicht mehr einfach nur das Blau. Die Farbe des Himmels, der Weite, des Meeres besitzt heute in Deutschland einen symbolischen Wert. Der Farbton R 0/ G 158/ B 224 und der Farbton R 0/ G 102/ B 153, definiert nach dem RGB-Farbmodell, sind Erkennungsfarben einer politischen Partei. "Das AfD-Hellblau", so liest man auf der Website dieser Partei, "vermittelt Aufbruchstimmung, Frische und eine positive Zukunftsperspektive. Das AfD-Dunkelblau, das unsere Botschaften trägt, steht für Seriosität und Verlässlichkeit." Manche zweifeln an dieser Seriosität, manchen schaudert vor dieser Aufbruchsstimmung. Manche möchten das Blau gerne dem Himmel zurückgeben. Der Künstler Daniel Schürer beispielsweise. Er leitet den Süddeutschen Kunstverein im kleinen Ort Ammerbuch-Reusten, 941 Einwohner stark, im Landkreis Tübingen, Baden-Württemberg. Schürer hat dem Blau eine Ausstellung gewidmet. "Ich kann im besten Fall kein Hakenkreuz erkennen", so hat er sie genannt.

Der Titel lehnt sich an Martin Kippenbergers Gemälde "Ich kann beim besten Willen kein Hakenkreuz entdecken" von 1988 an. Kippenbergers Werk zeigt, in pseudokubistischer Manier, ein Gewirr aus winklig angeordneten Flächen auf dunklem Grund. Ein nerviges, bewegtes, unbequemes Bild, auf dem tatsächlich kein Hakenkreuz zu sehen ist, aber viele Konstellationen, die ihm ähneln. Der Betrachter beginnt, nach dem Hakenkreuz zu suchen, angeregt durch den Bildtitel. Kippenberger manipuliert den Betrachter, spielt hintersinnig mit Erwartungshaltungen, persifliert die klassische Moderne und eine halbherzige Vergangenheitsbewältigung.

Der wilde und laute Trinker, Maler, Performancekünstler Martin Kippenberger, ein Kind der Punkszene und aus gutem Hause, Kultkünstler der 1980er-Jahre, gestorben 1997 mit nur 44 Jahren, gehört zu jenen Künstlern, die Daniel Schürer prägten. Schürer selbst kann sich auch identifizieren mit Menschen, die in kleinen Verhältnissen leben. Er betreibt nicht nur einen kleinen Kunstverein, vielleicht den kleinsten überhaupt, sondern auch ein Café von regionalem Ruf, das Bergcafé Reusten. Rund 50 Jahre lang wurde es geführt von Sophie und Marie Haupt, einem eigenwillig emanzipierten Schwesternpaar. Student:innen und Professor:innen gingen ein und aus im urig hochgelegenen Café und die Legende, Gudrun Ensslin habe sich einmal in einem Schuppen beim Café versteckt, entspricht vielleicht sogar der Wahrheit.

Sargprobeliegen auf dem Testfriedhof

Daniel Schürer, zuvor rühriger Leiter eines ungewöhnlichen Kunstvereins in Hildesheim, gründete 2001 den Süddeutschen Kunstverein Reusten. Er kuratiert seither Ausstellungen in Räumen, die einst landwirtschaftlich genutzt wurden, in denen Schweine und Rinder untergebracht waren. 2015 eröffnete er gemeinsam mit Hannah Hahn, der Großnichte von Sophie und Marie, das Bergcafé Reusten neu, verwandelte es in ein Sozialkunstwerk, einen unkonventionellen Treffpunkt mit Aussicht.

Schürer sammelt und trägt gerne Kittelschürzen (Kontext berichtete). Er hisste Künstlerfahnen auf dem Reustener Kirchberg, baute jenen Schuppen, in dem vermutlich Ensslin einstmals saß, um zu einer rustikalen Waldkabine für naturverbundene Gäste, zum "Hotel weißes Rössel". Er errichtete säkulare Kloster und Gedenkstätten und legte einen "Testfriedhof" an, eine Grube samt sargähnlichem Behältnis, in der Besucher sich ausstrecken, ihrer Sterblichkeit gedenken und in einen tatsächlich unschuldig blauen Himmel blicken können – an schönen Tagen.

Und schließlich baute Daniel Schürer sich seine eigene Kunsthalle gleich neben dem Bergcafé. "Reusten sur Mer" hat er sie genannt. Sie ist nicht groß, im Maßstab 1:18, liegt in einem Erdwall an der Seite des Weges zum Café. Die Adresse, die Schürer ihr gab, lautet: "Marie & Sophie Allee 1". Ein Metallfacharbeiter aus dem Dorf half ihm beim Bau, ein Stuttgarter Architekt wurde beratend tätig, der Bruder des Künstlers besorgte die Elektroinstallation: Auf dem Dach befindet sich eine Fotovoltaikanlage, im Dunkeln leuchtet das Gebilde. Und es ist besucht: Kleine Menschen, 1:18, gut gekleidet, bunt bemalt, gehen ein und aus, spazieren über den Erdhügel, stehen in den Räumen der Kunsthalle und betrachten die Ausstellungen, die Daniel Schürer oder andere Künstler dort zeigen.

Im Juni 2024 fand die erste dieser Ausstellungen statt. Transparente Klebeflächen zogen sich über die gläsernen Kunsthallenwände. Das Wort "Helikopter" stand auf ihnen geschrieben, evozierte ebenfalls Abwesendes: Daniel Schürer spielte an auf Ebrahim Raisi, Staatspräsident des Iran, extrem konservativ, verantwortlich für Massenhinrichtungen, der kurz zuvor mit einem Helikopter abgestürzt war und dies nicht überlebt hatte. "Vielleicht", sagte Daniel Schürer dazu, "gibt es doch eine höhere Kraft, auch wenn sie sich manchmal erst spät meldet."

Eigentlich steht Hellblau für Ruhe

An Schürers Minikunsthalle ziehen bei schönem Wetter zahlreiche Wanderer vorbei. Im Vordergrund steht der Cafébetrieb. Dass es auch Kunst zu sehen gibt, entdecken die meisten eher aus Versehen. Menschen bleiben stehen am Reustener Wegesrand, blicken in die kleine Welt hinein, lesen den Schriftzug, der den Titel der Ausstellung angibt, wundern sich.

Daniel Schürer will ihnen kein Puppenhaus zeigen. "Als Besucher", sagt er, "soll ich nicht denken: Oh, das ist doch niedlich. Ich soll mich in die Köpfe dieser kleinen Personen hineinversetzen. Und das kann ganz schnell klaustrophobisch werden." Denn: Je kleiner man ist, desto größer ist alles andere. Ein Wasserglas. Die Pflanzen am Erdhang. Oder die blauen Flächen, die Bilder, überall. Zahlreiche Bilder in Himmelblau füllen die Halle, stehen auch vor ihr. Einige sind schwer und golden gerahmt. Die Betrachter fühlen sich vielleicht erschlagen vom Himmelblau, von ihm verfolgt. Schürer hat auch Einladungskarten zu seiner Ausstellung drucken lassen – auf festem Karton mit goldenem Rahmen: So kommt die Schau zu jedermann nach Hause, schlüpft das gestohlene Himmelsblau in die Briefkästen.

Und Daniel Schürer spricht vor der Kunsthalle Reusten sur mer bei der Eröffnung dieser neuen Ausstellung. "Wo kann ich ein Hakenkreuz erkennen?", sagt er. "In einem Sprossenfenster? In Fliesenfugen? Im Babyblau einer gesichert rechtsextremistischen Vereinigung?" Für Schürer liegt hier ein Fall schweren Farbmissbrauchs vor, keine Frage. "In der Psychologie", fährt er fort, "symbolisiert Hellblau Ruhe, Frieden und Freiheit, da es mit Himmel und Meer assoziiert wird. Es vermittelt ein Gefühl von Weite, Offenheit und Gelassenheit, wirkt luftig und erfrischend, aber auch distanziert und kann Melancholie hervorrufen." Und er appelliert: "Lassen sie uns dieses Blau bewahren, den Himmel, das Meer, das Schöne in der Vielfalt, es gehört allen und es gehört zu uns. Wehren wir uns gegen das Hakenkreuz darin, es hat nirgends etwas zu suchen und darin am allerwenigsten."

Vor dem Bergcafé Reusten steht im Übrigen auch ein Schild. Darauf liest man: "AfD-Wähler bitte beim Wirt melden." Der möchte ein gewiss ernsthaftes Wort mit ihnen reden. "Ab und zu", sagt Daniel Schürer mit bedeutsamer Miene, "kam es schon zu kleinen Gesprächen."

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