Mit dem Bus gemütlich durch die Nacht zu fahren, öffnet die Augen. Zumindest, wenn man mit Lokstoff! unterwegs ist. Die Stadt wird zur Bühne, die stillen Passagier:innen zu Voyeur:innen. Plötzlich sieht man in erleuchteten Fenstern die Menschen dahinter. Ob Gruppen von Jugendlichen, ob bunt blinkender Wasen, ob menschenleere Orte: Es liegt über allem Leuchten auch ein bisschen Melancholie. So offenbart sich halt die Seele einer Großstadt des Nachts: immer auch ein bisschen wehmütig.
Das Stuttgarter Theaterkollektiv, gegründet und geleitet von den beiden Schauspieler:innen Kathrin Hildebrand und Wilhelm Schneck, macht seit 2003 erfolgreich Theater. Es braucht kein festes Haus für seine gesellschaftskritischen, oft auch politischen Projekte. Seine Bühne ist der öffentliche Raum: ob U-Bahnhöfe, Schwimmbäder, Möbelhausfenster, Container, Eingangshallen, Parkhäuser – oder eben auch öffentliche Verkehrsmittel. Wie in der neuesten Lokstoff!-Produktion "Nachtschicht", die jetzt in der Regie von Bianca Künzel Premiere hatte. Darin geht es nicht um Besuche von Betrieben, in denen nachts noch gearbeitet wird, wie man vielleicht erwarten würde. Sondern während der "Reise durch die Stadt" steigen Menschen zu, die über ihr Leben und ihre Arbeit berichten. Es geht um "Held:innen" des Alltags, genauer: um jene, die nie im Rampenlicht stehen, deren Arbeit aber unsere Stadt am Leben hält, sie antreibt und bewegt. Es geht aber auch um Klischee-Helden: um Batman und Herkules, also um die schlaue, technisch versierte, gut trainierte Comicfigur und den Muskelmann-Zeussohn mit den Superkräften.
"Kann ich Foto machen, Digga?"
Am Beginn der zweistündigen Fahrt, als der Bus noch an der Haltestelle Schlossplatz steht, schauen die Passagier:innen Batman und Herkules zu, wie sie draußen für Aufmerksamkeit sorgen – verhaltensoriginell und in hippen Kostümen (von Maria Martínez Peña). Batman (Sebastian Schäfer), mit Fledermausmaske und -Cape, haut in die Tasten seines Keyboards, und Herkules (Wilhelm Schneck), in Brustpanzeroutfit, quatscht Vorbeilaufende an. Opfer sind schnell gefunden: ein Pärchen, das ein Wer-ist-was-Helden-Quiz mitmachen muss. Über Kopfhörer alles mitverfolgend, starren 60 Augenpaare auf die beiden, die nicht wissen, was hinter ihnen vorgeht. Der Bus ist verdunkelt. Dass da 120 blaue Kopfhörerlichter spooky leuchten, merken sie erst, als sie das Quiz beendet haben und fragen, was das eigentlich alles soll. Gleich danach tanzt ein junger Mann heran, fragt die beiden Kostümierten: "Hey Digga, kann ich Foto machen?", quetscht sich zwischen beide, macht Selfies und hüpft freudig erregt von dannen, das Handy wie eine Trophäe zeigend.
Die 60 Augenpaare, die ihm folgen, bemerkt er gar nicht. Das ist immer das Überraschende in Lokstoff!-Produktionen, die Vermischung von Realität und Theater. Verdutzte Menschen stolpern, huschen, humpeln durchs Inszenierte. Nur Einzelne bleiben stehen. Die meisten gehen weiter, schauen sich irritiert um oder tun so, als sei hier alles völlig normal. Bloß schnell raus aus dieser befremdlichen Situation, in die man unfreiwillig gerät. Zur Schadenfreude der Zuschauenden.
So zuckelt der Bus durch Stuttgart und Umgebung, von Ampel zu Ampel und ein bisschen schneller die B10 entlang. Wenn er hält, sind die zwei Superhelden schon da: Etwa an der grauen Schwelle eines Hochhauses, von dem sich der Original-Batman ja gerne mal hinunterstürzt, machen sie gymnastische Übungen, parlieren in Comicsprech ("Seufz, ächz, stöhn") und über ihre Zipperlein – Herkules hat Rücken, Batman Panikattacken und eine Menge "Phantomschmerzen". Sie gehen halt aufs Rentenalter zu. Am düsteren, menschenleeren Neckarhafen, wo die Arbeiter:innen längst Feierabend haben, übt Herkules Golfen und duettiert mit Batman: "Jede Zeit hat ihre Helden, jeder Held hat seine Zeit, um mit der Zeit zu gehen." Oder: "Wir waren die Guten, zumindest gegen die Bösen." Die beiden sind müde. Heute würde er was anderes machen, sagt Herkules, Künstler werden, Bob Dylan oder Tom Waits oder so. An einer Tanke beenden sie ihr Heldentum. "Wir gehören uns nicht." Ohne Kostüm seien sie nackt. "Sei du selbst." Batman bricht den Start zum Abflug ab, beide entledigen sich ihrer Kostüme und verziehen sich in Richtung Kentucky Fried Chicken.
Der Lkw-Fahrer hat für Helden keine Zeit
Die "Reiseleiterin" spielt Kathrin Hildebrand, sie läuft während der Fahrt den Mittelgang hin und her. Conférencière, Moderatorin, Sängerin, Darstellerin zugleich, ist sie für den poetischen Teil des Abends zuständig, rezitiert schöne Verse als Hommage an die Großstadt (Texte: Alexander Steindorf), erzählt von den "Räumen dazwischen", in die man hineinhören solle, die Platz böten für neue Geschichten. Die Stadt sei ein "Buch", ein "funkelndes Wimmelbild". Und sie befragt Zuschauer:innen nach ihren Held:innen der Kindheit: Michel aus Lönneberga, Pippi Langstrumpf, Pumuckl, Alfred E. Neumann, Jim Knopf.
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