KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Rimini Protokoll und Theater Lindenhof

Verschwindende Welten

Rimini Protokoll und Theater Lindenhof: Verschwindende Welten
|

Datum:

Bei der Premiere in Berlin wurde das experimentelle Stück "All right. Good night" von Rimini Protokoll bejubelt. Das Stück folgt der Spur eines verschwundenen Flugzeugs und eines Stuttgarter Theologen. Eine neue Interpretation gibt es am Theater Lindenhof in Melchingen zu sehen.

Da ist ein Flugzeug, das verschwindet, weit abseits seines Kurses über den Weiten des Meeres. Da ist ein Vater, der verschwindet, der an Demenz erkrankt, sich innerlich in anderen Weiten verliert. Beide Fälle haben sich so zugetragen – am 8. März 2014 verschwand das Flugzeug MH 370 der Malaysia Airlines mit 227 Passagieren und zwölf Crewmitgliedern an Bord vom Radar. Es gilt bis heute als vermisst. Zum Verschwinden gibt es mehrere Theorien, aber keine Gewissheit. Zur selben Zeit zeigte der evangelische Theologe Egbert Haug-Zapp erste Anzeichen von Demenz.

"All right. Good night" heißt das Bühnenstück, das beide Geschehnisse miteinander verbindet. Helgard Haug hat es geschrieben und inszeniert, unter dem Label Rimini Protokoll, der postdramatischen Theatergruppe, die sie im Jahr 2000 gemeinsam mit Stefan Kaegi und Daniel Wetzel gründete. Seine Uraufführung erlebte das Stück im Dezember 2021 im Hebbel am Ufer in Berlin. Seit dem Frühjahr 2024 führt das Theater Lindenhof in Melchingen "All right. Good night" in eigener Regie auf, auch in der kommenden Spielzeit wird es wieder zu sehen sein.

Rimini Protokoll bringt normalerweise Menschen auf die Bühne, die ihre eigene Geschichte erzählen, oder Expert:innen, die über ein Thema sprechen, das ihnen vertraut ist. Bei der Uraufführung von "All right. Good night" war das nicht so. Eine Gruppe von Musikern trat auf, die ambienthafte Klänge aufbauten, Spieler, die auch Sand schaufelten, kleine Arbeiten verrichteten, auf Liegestühlen in die Ferne schauten. Die Hauptdarsteller – 239 Menschen und einer – waren abwesend. Das Publikum lauschte, schaute, las über zweieinhalb Stunden Helgard Haugs projizierten Theatertext still für sich ab: ein Experiment, radikal in seiner Form, das großen Anklang fand. "All right. Good night" landete auf den Bestenlisten der Theaterkritik im In- und Ausland. "Zu den schönsten und berührendsten, durchaus auch traurigsten des Theaterjahres" zählte es die Plattform "Nachtkritik", fünf Sterne vergab die britische Zeitung "The Guardian".

Der Südwesten war dem Theologen zu pietistisch

Autorin Helgard Haug wurde in Sindelfingen geboren. Im Alter von anderthalb Jahren zog sie mit ihren Eltern nach Hessen. Egbert Haug, später Haug-Zapp, ihr Vater, war Stuttgarter, wuchs auf in Möhringen. Gerne verließ er seine Heimat nicht. Es gab Umstände, die ihn dazu zwangen.

Der Theologe wurde geboren am 19. Oktober 1938, studierte in Tübingen, Zürich, Berlin, lernte seine Frau Irmgard, eine Lehrerin, kennen als Lehrvikar in Sternenfels im Enzkreis, verbrachte eine Zeit im Kloster Maulbronn und ein Auslandsstipendium in den USA. 1966 kehrte er zurück. Die Familie lebte in Böblingen, Egbert Haug war tätig für den Tübinger Stift und absolvierte ein Volontariat bei den "Stuttgarter Nachrichten". 1971 dann der Umzug in die hessische Kleinstadt Gelnhausen. Dort lehrte er an einem Fort- und Weiterbildungsinstitut, war Chefredakteur einer evangelischen Fachzeitschrift für Sozialpädagogik, bis 2001 Studentenpfarrer. Später übernahm er eine Pfarrstelle in der Pfalz. Im Ruhestand half er in Langen, Hessen, ein Wohnprojekt für Menschen mit Demenzerkrankung aufzubauen – er wurde selbst zuletzt in diesem Haus gepflegt.

Aber nach Baden-Württemberg, in eine überwiegend pietistisch geprägte Region, passte er nicht. Zumindest nicht in den frühen 1970er-Jahren. "Mein Vater", sagt Helgard Haug im Gespräch mit Kontext, "ist Theologe geworden, nicht um nur zu predigen, sondern auch, um etwas zu tun. Das war sein Anspruch. Er hat die Kirche als Instrument verstanden, mit dem ganz konkret politisch gehandelt werden müsse. Er sprach vom Auftrag der Kirche, sich für die Schwachen einzusetzen, für Geflüchtete, Kinder, Alte, Obdachlose und andere Hilfsbedürftige."

Für Egbert Haug bedeutete die christliche Haltung eine politische Positionierung. Er forderte entschiedene Offenheit, eine Kirche, die allen Menschen ohne Unterschied beistehen wollte – und machte sich unbeliebt. "In Kirchenkreisen war das nicht immer gern gesehen", sagt Helgard Haug. "Es hat zu Konflikten mit der Kirchenführung geführt."

Radikale Christenpflicht

1972 trat in Deutschland der sogenannte Radikalenerlass in Kraft – ein Gesetz, das Lehrer:innen mit politisch linker Gesinnung den Schuldienst verwehrte, während Lehrer:innen mit bewährt rechts-konservativer Haltung dort verbleiben und ihre Überzeugungen verkünden durften. Egbert Haug wurde nahegelegt, seinen Arbeitsplatz zu wechseln. Die Kirche ließ ihn wählen zwischen einer Pfarrstelle auf der Schwäbischen Alb, in einem Ort mit bekannt hohem rechtsradikalen Bevölkerungsanteil, oder der Stelle in Hessen. Haug entschied sich für Hessen, da dort eine Schule für Erzieher:innen existierte und er hoffte, pädagogisch wirken zu können. Später sollte er, als Co-Autor, mehrere Bücher über Kindergartenpädagogik und Theologie veröffentlichen. 1972, im Jahr des Radikalenerlasses, veröffentlichte er ein anderes Buch: "Von der Christen Pflicht, radikal zu werden. Eine Streitschrift."

Egbert Haug starb am 1. Februar 2021 mit 82 Jahren an den Folgen einer Corona-Infektion. Martin Bregenzer, ein Jugendfreund, schrieb einen Nachruf, erinnert sich darin an die Zeit, die beide beim CVJM in Stuttgart-Möhringen verbrachten: "Das  Vokabular der Lieder, die wir begeistert in Jungschar und Jungenschaft sangen, war von der militärischen Symbolik der Nazizeit  geprägt: Christus als Heerführer – Sieg, Fahne, Banner, Kampf, Kameraden, Brand, Feuer, Funken, Speere, Pfeile, Lanze, Ritterschaft, streiten, Trommel, Feld, Lager, Zelte, Führer (…) Egbert durchschaute die Fragwürdigkeit der großen Worte mit seinem Humor und seiner Ironie viel früher als ich."

Die Offenheit, die der Vater seinerzeit von der Kirche forderte, scheint ihren Widerhall zu finden in der Offenheit, mit der die Tochter heute Theater macht. "Wir haben Rimini Protokoll gegründet, zu einer Zeit, in der das Theater sehr mit sich selbst beschäftigt war", sagt Helgard Haug. Die Gruppe, die sich am Institut für angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität in Gießen gefunden hatte, wollte das Theater öffnen: "Es sollte nicht mehr um abgekapselte Räume gehen, um Fiktion. Wir wollten rausgehen in die Stadt und Menschen eine Bühne geben, die nicht erfunden war. Unser starkes Bedürfnis war es, das Theater zu nutzen als ein Instrument, mit dem wir auf die Realität schauen."

"All right. Good night" wurde im Werk von Rimini Protokoll zur Ausnahme, da Helgard Haug in diesem Stück auch von sich selbst erzählt, von sehr persönlichen Erfahrungen. Als eine Form von Trauerarbeit versteht sie es aber durchaus nicht: "Ich hatte das Bedürfnis, es zu teilen, eine Form anzubieten, die zu einem Teil persönlich ist, zum anderen aber auch zulässt, dass die Zuschauer es erleben, mit ihren eigenen Angehörigen im Kopf, ihren eigenen Verlusterlebnissen."

Das Große im Kleinen

Das Flugzeug, das verschollen ist, der Mensch, der den Kontakt zur Wirklichkeit verliert – "All right. Good night" spiegelt das Große im Kleinen, einen Vorgang, der die Welt bewegt, die Nachrichten beherrscht, in einem Prozess, der leise, zurückgezogen, privat geschieht, und doch allgegenwärtig ist. "Irgendwann", sagt Helgard Haug, "habe ich gemerkt, dass diese beiden Geschichten sich gegenseitig stützen, gerade weil sie anders gelagert sind und es nicht immer passt. Jeder hat Fälle von Demenz in seiner Familie – fern aller Öffentlichkeit. Das Verschwinden der MH370 ist weltweit bekannt."

Das Theater Lindenhof spielt Helgard Haugs Stück anders, als die Autorin es auf die Bühne brachte. In Melchingen gibt es Spielszenen, treten Schauspieler:innen auf als Angehörige, Flugtechniker, Familie. Bernhard Hurm, in einer Rückenprojektion, spielt den Vater, der im Vergessen versinkt, hin und hergerissen zwischen Wahn und Verbitterung. "Es bleibt Demut und Depression", sagt er in einer Rede, die er an seinem Geburtstag für seine Familie hält.

Helgard Haug gab ihr Stück zögerlich frei zur Inszenierung am Lindenhof. Die Anfrage erreichte sie über ihren Verlag. "Ich konnte mir eine andere Inszenierungsform zunächst gar nicht vorstellen", sagt sie. Claudia Rüll Calame-Rosset, die Regisseurin der Melchinger Version, ließ nicht locker. Schließlich willigte die Autorin ein: "Ich wollte dem nicht im Wege stehen." Anfragen um dramatische Inszenierungen ihrer Stoffe hatten Rimini Protokoll nie zuvor erreicht. Die Geschichte vom Flugzeug und vom Vater, von dem großen und dem kleinen unfassbaren Unglück, sollte noch mehr Menschen berühren. 2023 veröffentlichte der Rowohlt Verlag eine Ausarbeitung des Textes als Roman.

Und Egbert Haug kehrte in den späten Phasen seiner Demenz doch wieder nach Stuttgart zurück, in seinen Gedanken. Die Stadt war für ihn die Heimat geblieben. "Er hat dann nach seiner Mutter gefragt, nach seinen Brüdern. Er hat die Bombardierung Stuttgarts erlebt, als Kind in einem Keller. Das waren starke Erlebnisse, die sich bei ihm eingeschrieben haben und die er uns vermittelt hat, auch als eine Mahnung zum Frieden."


"All right. Good night" kommt am 4. Oktober am Theater Lindenhof in Melchingen wieder auf die Bühne.

Vom 9. bis 11. Oktober sind Helgard Haug und Daniel Wetzel als Rimini Protokoll zu Gast im Theater Rampe in Stuttgart. Sie zeigen ihr dokumentarisches Stück "Futur4" um eine Frau, die vor 50 Jahren aus Siebenbürgen nach Deutschland kam und nun verschiedene Simulationen anderer Entwicklungen erlebt, die ihr eigenes Leben hätte nehmen können.

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!