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Ausstellung "зyy + hundert"

Die Weite des Horizonts

Ausstellung "зyy + hundert": Die Weite des Horizonts
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Der Kunstverein in Neuhausen auf den Fildern stellt 100 Arbeiten mongolischer Künstler:innen ebenso vielen Werken aus Deutschland gegenüber. Die Leiterin war einen Monat in dem zentralasiatischen Land, dort ist die Kunstszene im Aufbruch.

"Du musst aus deiner Komfortzone raus", drängte die in Berlin lebende Künstlerin Katja Brinkmann die Leiterin des Kunstvereins Neuhausen Susanne Jakob. Immer wieder reiste Brinkmann in den vergangenen Jahren in die Mongolei, hat dort Kunstschaffende kennengelernt. Zum ersten Mal wird diesen Juni in der Hauptstadt Ulaanbaatar eine Biennale für zeitgenössische Kunst abgehalten, mitveranstaltet vom mongolischen Kunstzentrum "Blue Sun". Sie suchten noch eine Expertin für Kunst im öffentlichen Raum – da musste Brinkmann an Susanne Jakob denken.

So kam es, dass Jakob im vergangenen Herbst einen Monat lang in die Mongolei gereist ist und nun in Neuhausen auf den Fildern eine von Brinkmann kuratierte Ausstellung mit je 100 Arbeiten mongolischer und deutscher Künstler:innen zeigt. Zur Eröffnung reiste sogar der mongolische Botschafter aus Berlin an, auch ein bekannter mongolischer Rocksänger erschien unangekündigt.

Brinkmann ist in Westfalen geboren, hat aber in Stuttgart studiert und ist Mitglied des Kunstvereins Neuhausen. 2013 hat sie sich von einer Freundin überreden lassen, mit ihr in die Mongolei zu reisen. Sie habe sich "total verliebt", erzählt sie: in die Musik, in die Landschaft, die Art, wie die Menschen miteinander umgingen. Sie kam wieder, lernte mongolisch und unterrichtete dreimal für jeweils ein Jahr an der Kunsthochschule von Ulaanbaatar, die sie 2021 zur Ehrenprofessorin ernannte.

Begegnungsräume fehlen, auch in Ulaanbaatar

Im vergangenen Jahr feierten die Bundesrepublik und die Mongolei 50 Jahre diplomatische Beziehungen. Auf einem zentralen Platz in Ulaanbaatar war zur Zeit ihres Besuchs ein Zelt aufgebaut, in dem Fotos der wichtigsten deutschen Staatsgäste zu sehen waren, erzählt Jakob: Roman Herzog, Horst Köhler, Angela Merkel, Joachim Gauck, Annalena Baerbock und Frank-Walter Steinmeier, die den jeweiligen mongolischen Staatspräsidenten und Premierministern die Hand schüttelten.

Für Jakob kam das Jubiläum wie gerufen, denn das Goethe-Institut für Kulturaustausch finanzierte deshalb ihren Aufenthalt. Sie hielt Vorlesungen an der Nationaluniversität und der Kunsthochschule, gab Workshops zur Kunst im öffentlichen Raum, besuchte Kunstschaffende in ihren Ateliers und nahm an einem Art-Camp außerhalb der Hauptstadt teil, wie sie das Kunstzentrum "Blue Sun" seit über 20 Jahren veranstaltet.

In ihrer Vorlesung an der Nationaluniversität ging es um den öffentlichen Raum, um die Frage, wer mitreden darf, und die autogerechte Stadt. Räume für Austausch und Begegnung fehlen, auch in Ulaanbaatar. Mit "Blue Sun" machten die Teilnehmer:innen die Probe aufs Exempel: "Wie eignet man sich diesen Raum wieder an?", fragte Jakob ihre Studierenden und entschied: "Wir machen jetzt einen Test." Das Ziel: eine Straße im Stadtzentrum halbseitig für zwei Stunden sperren. Also: Kulturbürgermeister anfragen, der musste die Ämter einbinden und schließlich sperrte die Polizei die Straße. Dann lief die Truppe in einer Schlange immer wieder über einen Zebrastreifen, hielt damit den Autoverkehr auf, schließlich auf der Straße, vorwärts und rückwärts. Einer kroch sogar auf allen Vieren. Gemeinsam bemalten sie ein langes Tuch, ein Kunstwerk wie ein XXL-Demotransparent, das sie am Straßenrand hochhielten.

Einblicke in die Hauptstadt liefern in der Ausstellung zwei Diaserien von Katja Brinkmann: Die erste zeigt Kioske, die bis spät nachts geöffnet sind, aber oft Neubauten weichen müssten, wie Jakob erzählt. Die zweite Serie zeigt den Straßenverkehr vor einem Haus: meist Nutzfahrzeuge, auch Pferdefuhrwerke und Mopeds. Eine dritte Serie zeigt Land und Steppe, das Zusammenleben von Mensch und Tier. Der Übergang von Stadt zu Land ist fließend: Die zuletzt nach Ulaanbaatar Gezogenen leben am Stadtrand in Jurten, also traditionellen Nomadenzelten.

Vielfalt an Themen und Stilen

Die Werke der mongolischen Künstler:innen verteilen sich in Neuhausen über die Wände einer in die frühere Jesuitenkirche eingebauten Ausstellungsbox. Es sind Arbeiten überwiegend auf Papier im Format DIN A3 bis DIN A4, ungerahmt, direkt an der Wand befestigt. Dies sei in der Mongolei absolut unüblich, erklärt Brinkmann. Sie entschied sich für diese Präsentation, um eine Atmosphäre schaffen, die zu Vergleichen einlädt. Die Werke deutscher Kunstschaffender sind auf der Außenseite der Box und auf Emporen zu sehen.

Mehr als 60 Jahre lang war die Mongolei von den beiden großen kommunistischen Nachbarländern Sowjetunion und China abhängig, seit 1992 ist der zentralasiatische Staat demokratisch geführt. Ab 1950 war er Bruderstaat der DDR, die sich Schürfrechte gesichert hatte, unter anderem Für Gold. Noch heute ist Deutschland an den Rohstoffen des Landes interessiert, das sich zwischen Russland und China seine Unabhängigkeit zu bewahren sucht.

Es ist auch diese Geschichte des Landes, die sich in den Kunstwerken spiegelt. Auffällig ist die große Vielfalt der Themen, Techniken und Stile. Ein Linolschnitt eines älteren Künstlers stammt noch aus der kommunistischen Zeit und zeigt das Emporwachsen einer Plattenbausiedlung. Großstadt-Themen sind jedoch eher die Ausnahme. Häufiger werden alte Traditionen aufgegriffen: in Stein geritzte Zeichen in der Wüste Gobi über Dschingis Khan bis hin zur buddhistischen Kunst. Obwohl das kommunistische Regime die meisten Klöster aufgelöst hatte, blieb der Buddhismus für eine Mehrzahl wichtig, die Zahl der Mönche nimmt heutzutage wieder zu.

Aber auch abstrakte und neue Kunstrichtungen zeigt die Schau. Die mongolischen Künstler:innen orientieren sich dabei keineswegs nur am Westen. Viele haben in Moskau studiert, erklärt Brinkmann, neuerdings eher in China, aber auch in Südkorea, Japan oder Australien. Dies zeigt sich in der Ausstellung in einer fast verwirrenden Vielfalt von Anspielungen und Formen. Und genau das war es, was Brinkmann zeigen wollte.

Auch Land Art – Kunst, in der Landschaft zum Material und Medium wird – und Performance sind nicht unbekannt, wie Fotos in der Ausstellung zeigen. Aufgegriffen haben das die Künstler:innen unter anderem in den internationalen Art-Camps und Kunstausstellungen. Eine Land Art Biennale in der Wüste Gobi gibt es schon seit 2010.

Mongolische Kunstszene im Aufbruch

Die Kunstakademie von Ulaanbaatar mag nach wie vor ziemlich konservativ sein. Doch die Kunstszene des Landes befindet sich im Aufbruch. Seit 2015 nimmt das Land an der Biennale von Venedig teil. Einer der ersten beiden Teilnehmer war "Blue Sun"-Mitglied Enkhbold Togmidshiirev, der mit einem "nomadischen mongolischen Pavillon", das heißt einer kleinen, tragbaren Jurte überall im Stadtraum auftrat. Die Ausstellung in Neuhausen zeigt ein Foto einer entsprechenden Performance in einer verschneiten Winterlandschaft.

Die Grunderfahrung der Mongolen, sagt Susanne Jakob, ist das Leben in den Weiten der Steppe. Über ihnen die blaue Kuppel des Himmels, die Sonne, heiße Sommer, eiskalte Winter. Sie leben mit ihren Tieren in einem engen Wechselverhältnis mit der Natur. Heute leben 40 Prozent der Bevölkerung in der Hauptstadt, eineinhalb Millionen – im ganzen Land sind es dreieinhalb. Doch ihr Horizont bleibt weit: in alle Richtungen offen.


Die Ausstellung "зyy + hundert" im Kunstverein Neuhausen/Fildern, KVN Projektraum
Rupert-Mayer-Straße 68b, läuft bis 6. Juli und ist samstags und sonntags von 14 bis 18 Uhr geöffnet.

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