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Performancetour zur Biennale

Vermischte Erde

Performancetour zur Biennale: Vermischte Erde
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Viele pilgern nach Venedig, um die Biennale zu besuchen. Manche auch mit dem Rad. Eine Gruppe um den Performancekünstler Andreas Hoffmann erklärte die eigene Radtour über die Alpen in diesem Jahr zur grenzüberschreitenden Kunstaktion. Mit Heimaterde im Gepäck.

Die Gruppe Radfahrer:innen startete am 20. August im Theater Lindenhof in Melchingen, am Albtrauf, weit hinter Tübingen. Das Ziel: Venedig. Leicht zu erkennen an ihren T-Shirts und ihren Fahnen waren sie auf dem Weg. Das Motto ihrer Reise lehnten sie eng an das Thema der Biennale 2024 an: "Stranieri Ovunque – Foreigners Everywhere” heißt es noch bis zum 24. November in Venedig. "Siamo Stranieri – We are Strangers – Wir sind Fremde" lautete der Slogan der Radfahrer:innen. Sie zogen aus, das Fremdsein zu erkunden. Und es, vielleicht, zu überwinden.

Andreas Hoffmann und Monika Weber, zwei der Reisenden, leben in Tübingen, Paul Siemt ist in Melchingen zu Hause, Heinrich Kallenberg in Eningen bei Reutlingen, Padungsak Kochsonmrong, genannt Toi, in Thailand. Antonio Irre, ein italienischer Performancekünstler, sollte sich der Radtour auf dem Wege anschließen. Für die süddeutschen Teilnehmer:innen der Tour war die Reise an sich nicht neu – in wechselnder Zusammensetzung radeln sie seit mehr als 20 Jahren nach Venedig. All die Jahre wurden Andreas Hoffmann und seine Freunde angetrieben von einer Mischung aus Kunstbegeisterung und Sportlichkeit. "Im Gespräch mit Padungsak Kochsonmrong entstand die Idee, wir könnten etwas anderes daraus machen."

Hoffmann war Metaller, ehe er Performancekünstler wurde. "Mit 15 Jahren", erzählt er, "war ich in der Fabrik. Danach wusste ich zumindest, was ich nicht wollte." Über gewerkschaftliche, politisch orientierte Kulturarbeit gelang ihm der Wechsel. Er begann, Theater zu spielen, lebte zur Wendezeit für einige Jahre in Berlin, arbeitete in der freien Theaterszene, begann auch, sich für Bildende Kunst zu interessieren, landete schließlich bei der Performance. Die jedoch verlor seit den 1990er-Jahren zunehmend an Bedeutung, auch in politischer Hinsicht. Hoffmann begann, sich neu zu orientieren, knüpfte Kontakte nach Fernost, reiste nach Myanmar, Thailand oder auf die Philippinen. In einer Zeit, in der auch in Deutschland die Verhältnisse wieder problematisch werden, glaubt er, könne die Performance ihre Aussagekraft zurückgewinnen. Schon während der Pandemie organisierte er mit "Be a Part" ein Performancefestival mit internationalen Teilnehmer:innen im Internet.

Neue Bedeutung für alltägliches Handeln

Dabei versteht Andreas Hoffmann Performance nicht als Spektakel, sondern als eine Kunstform, die alltäglichen Handlungen eine neue Bedeutung gibt. "Wir sind keine Schauspieler", sagt er. "Wir tun nicht so, als ob. Was wir tun ist real. Wir begreifen es aber auf andere Weise."

Künstlerisch kooperierten alle Teilnehmer:innen der Tour bereits zuvor. Monika Weber ist Lehrerin, Theaterpädagogin, arbeitete mit Geflüchteten. Padungsak Kochsonmrong ist Professor für Malerei an einer Kunstschule in Thailand und Performancekünstler. Antonio Irre setzt sich in seinen Lecture-Performances oft mit Natur und Wissenschaft auseinander. Heinrich Kallenberg, ehemals Sozialarbeiter an Tübinger Schulen, begleitete die Gruppe als Techniker, plante die Route, dokumentierte die Auftritte.

Paul Siemt gehörte über zehn Jahre zum Ensemble des Theater Lindenhof. Er ermöglichte, dass dort, zwischen den Spielzeiten, geöffnet wurde für den Auftakt der Venedig-Reise-Performance. Zum ersten Mal mischten die Radler:innen im Theater die Erde. Berthold Biesinger, Mitglied des Melchinger Ensembles, las dazu einen Text von Karl Valentin und Liesl Karlstadt: "Fremd ist der Fremde nur in der Fremde". Und dann machten sie sich auf zur Erkundung dieses Umstandes.

Rund 730 Kilometer war die Gruppe mit dem Rad unterwegs. Begleitet von einem Kleinbus, der das Material der Performance transportierte. Zehn Tage dauerte die Reise, neun Stationen gab es mit insgesamt fünf Performances: "Wir benutzten Erde, die jeder von uns aus dem eigenen Garten mitgebracht hatte", erklärt Andreas Hoffmann. "Wir breiteten ein Tuch aus, auf dem wir unsere Heimaterde mit der Erde der anderen Orte vermischten. Dann nahmen wir einen Teil der Erde wieder an uns und ließen den Rest zurück." Die Künstler:innen beschäftigten sich auch mit den Elementen – Paul Siemt versuchte, Wasser mit der bloßen Hand zu tragen, Asche war Teil der Aktionen von Andreas Hoffmann, als Symbol des Feuers, Padungsak Kochsonmrong kochte Reis als Sinnbild von Wachstum und Dauer, verteilte ihn an Zuschauer, grub zuletzt, in Venedig, den Reis auch mit der Erde ein.

Überall fremd oder überall zu Hause?

Und Monika Weber las, in mehreren Sprachen, trug vor aus Statements, Interviews, die sie vor der Reise geführt hatte. Sergey, 26 Jahre alt, geflohen aus der Ukraine, in der er Agrarwissenschaft studierte, sagte zu ihr: "Fremde bedeutet für mich, wenn mich niemand versteht, wenn ich nichts Neues vom Gespräch mit anderen lernen kann. Fremd sein bedeutet für mich, wenn mich niemand bemerkt." – "Heimat und Fremde als gegensätzliche Realität zu sehen", sagte Anna, 19, eine Studentin, "halte ich für falsch und gefährlich." – "Auch in der Fremde kann es herzliche Begegnungen geben, die eine Atmosphäre des Angenommenseins spürbar werden lassen", sagte Claudia, 68, eine ehemalige Sonderschullehrerin. Monika Weber selbst belud sich beim Start der Tour in Deutschland mit Steinen: "Ich war die einzige Frau in der Gruppe. Wenn eine Frau in ein anderes Land zieht, dann trägt sie eine große Last mit sich." Unterwegs tauschte sie die Steine ein oder legte sie ab. Bei ihrer Heimkehr trug sie keine mehr.

Stationen der Reise waren Melchingen, Füssen, Reschen in Südtirol, die Villa Albrizzi in Bassano dell Grappa in der italienischen Provinz Vicenza, schließlich die "Bright Home Gallery" in Venedig. In Füssen traten die Künstler:innen in einer Fußgängerzone auf, in Reschen im Bunker 23, einer monströsen Anlage, die Mussolini zur Abwehr Hitlers errichten ließ.

Andreas Hoffmann, Monika Weber, Paul Siemt, Antonio Irre, Heinrich Kallenberg und Padungsak Kochsonmrong empfanden ihre Reise als Bereicherung: "Wir haben etwas für uns getan, dabei aber auch anderen die Möglichkeit gegeben, das zu erleben und zu spüren. Es war ein Angebot zur Kommunikation. Wenn wir überall Fremde sind, dann heißt das in der Umkehrung eigentlich, dass wir überall zu Hause sind."

Nach einer Performance bleiben Erinnerungen zurück. Und Dinge. Die Gruppe, die nach Venedig reiste, trug ein Buch mit sich, in das Menschen, die ihr begegneten, hineinschrieben, in vielen Sprachen und unterschiedlichen Schriften. "Wir sind überall Fremde, zu Hause oder in der Welt, aber wir sind alle Menschen, und wir sind alle gleich", schrieb ein armenischer Mönch in dieses Buch, 90 Jahre alt, einst geflohen aus der Türkei. "Das habe ich schon mein Leben lang gedacht."

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