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Blockbuster "The 800"

Schaut auf diese Stadt!

Blockbuster "The 800": Schaut auf diese Stadt!
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Der erfolgreichste Film des Jahres 2020 heißt "The 800", kommt aus China und erzählt von einer Schlacht in Shanghai. Er ist Kriegsfilm, Heldenepos, auch Propagandawerk – aber nicht nur.

Für diese Schlacht gibt es Logenplätze! Nein, nicht nur im Kino, sondern auch im Film selbst. Im Shanghai des Jahres 1937, in den internationalen Schutz- und Konzessionszonen auf der anderen Seite des Flusses Souzhou, sitzen gut gekleidete Menschen beim Morgenkaffee auf ihren Terrassen, lehnen sich chic frisierte Sängerinnen an die Balkonbrüstung und rauchen, machen Geschäftsleute mal Pause und schauen von der Uferpromenade aus zu, wie sich gegenüber chinesische Soldaten in einem großen Lagerhaus verschanzen. Es ist der letzte Ort der Stadt, den die japanische Invasionsarmee noch nicht eingenommen hat. Vier Tage lang wird der Angriff dauern, vier lange Tage des Kämpfens und Sterbens stehen bevor. Eingeschlossen in einer graudunklen Ruinenödnis, ausgesetzt japanischen Scharfschützen, giftgelben Gasgranaten, Panzern und Flugzeugen. "Wenn das da drüben der Himmel ist", sagt Oberst Xie Jinyuan (Chun Du) und schaut hinüber auf das friedlich-bunte Treiben in der Schutzzone, "dann ist das hier die Hölle."

Der Regisseur Hu Guan erzählt in seinem Film "The 800" von einer in China legendären Kriegsepisode und von einem Ort, der, so heißt es in einem kleinen Vorspann, zum "Denkmal für zukünftige Generationen" wurde. Schon im Film wissen einige der Verteidiger, dass sie in die Geschichte eingehen werden: "Diese Halle wird berühmt!" Im Film hört man auch den Satz: "Seinem Land dienen zu dürfen, ist eine Ehre!" Und als eine mondäne Frau von der anderen Seite des Flusses aus beobachtet, wie sich einer der Kämpfer aus einem oberen Stockwerk des Lagerhauses in die Schar der Belagerer stürzt und in die Luft sprengt, sagt sie: "Wenn alle Chinesen so tapfer wären, wären sie nicht angegriffen worden." Ja, dies ist auch ein Propagandafilm. Aber damit ist noch nicht alles gesagt.

Leistungsschau voll Heroismus und großer Gefühle

Die patriotisch-moralaufrüstende Saga von den Verteidigern, die gegen eine feindliche Übermacht kämpfen und ruhmreich verlieren, ist auch im Westen nichts Neues. John Wayne hat so einen Kampf beinhart revanchistisch in "Alamo" (1960) nachgedreht, Jack Snyder hat 2006 seine Thermopylen-Metzelei "300" zum faschistoid angereicherten Sparta-Loblied ausstaffiert, und Michael Bay findet in "Pearl Harbor" (2001) inmitten des Schiffeversenkens Raum für junge, schöne Gesichter und große Gefühle. Tatsächlich ist "The 800", verglichen mit den genannten Beispielen, näher dran an Christopher Nolans melancholisch-elegischem Rückzugsdrama "Dunkirk" (2017), in dem der Heroismus gerade deshalb in Erinnerung bleibt, weil er eher dezent an- als brachial ausgespielt wird.

Eine solche Zurückhaltung will sich "The 800" zwar nicht immer auferlegen – und kann dies wohl auch nicht. Schließlich musste der aufwändige Film – eine Leistungsschau des chinesischen Kinos! – durch die Zensur und war eine Zeitlang auch im Wartestand, bevor er in einer leicht gekürzten Fassung in die Kinos kam. Dort wurde er nicht nur zum erfolgreichsten Film in China, sondern zum global erfolgreichsten des Jahres 2020. (Erstmals wurde Hollywood überholt, was natürlich auch durch Corona-Einschränkungen zu erklären ist.) Trotzdem ist dies kein in jeder Sekunde vom Patriotismus durchglühtes Machwerk, auch sind manche der oben zitierten Sätze nicht als endgültige Haltung zu verstehen. Der Regisseur lässt manchmal Distanz zu, zeigt sogar eine gewisse Ambivalenz. Wenn sich etwa Soldaten weigern, japanische Gefangene zu erschießen, werden sie nicht als Feiglinge denunziert, eher wird ihr Befehl in Frage gestellt. Überhaupt ist Angst in "The 800" eine zulässige Emotion, selbst bei Desertierwilligen. Und wenn es heißt: "Dies hier wird unser Grab sein!", muss das nicht unbedingt als freudige Vorahnung verstanden werden.

Ausgerechnet dann, wenn "The 800" doch mal und buchstäblich Flagge zeigen will, zeigt sich ein bis in die Gegenwart reichendes Problem. Diese Flagge nämlich, mit der eine Pfadfinderin durch den Fluss schwimmt und sie den Verteidigern überreicht, diese Flagge, die schließlich japanprovozierend auf dem Dach gehisst wird, um der Welt Tapferkeit und Nationalstolz vorzuführen, diese Flagge also ist nicht die, unter der damals Maos Truppen kämpften. Es ist die Flagge von Chiang Kai-sheks Kuomintang-Armee, die gegen die Kommunisten Krieg führte, sich zu einem fragilen Bündnis gegen den japanischen Feind durchgerungen hat und sich 1949, nach ihrer Niederlage im erneut aufgeflammten Bürgerkrieg, nach Taiwan zurückzog. Eigentlich ist diese nationalchinesische Flagge in der Volksrepublik verboten. Dass sie im Film überhaupt zu sehen ist, wenn auch meist nur in Ausschnitten oder sehr klein in der Totale, dass also die Historie zwar ein bisschen an den Rand gedrängt, aber nicht verleugnet wird, das ist schon bemerkenswert.

Von der Schlacht zu einem neuen, friedlichen China?

"Damit dieses Land ein besserer Ort wird!", dafür werde hier gekämpft, sagt ein Soldat. In den fulminanten Kriegsszenen, die an Spielbergs "Der Soldat James Ryan" erinnern oder, bei einer zeitlich extrem gedehnten Brücken-Überquerung, an Eisensteins Treppensequenz in "Panzerkreuzer Potemkin", schälen sich zwar keine ausdifferenzierten Charaktere heraus, aber der Film zeigt doch nicht nur Masse, er umreißt ein gutes Dutzend wiederkehrende Personen mit wiedererkennbaren Gesichtern, er zeigt sie in genretypischen Szenen bei einer geteilten Zigarette, beim Abfassen letzter Briefe oder bei der Frage an einen Veteranen, wie es sich eigentlich anfühlt, wenn man eine weibliche Brust berührt. Diese Kämpfer bilden einen (männlichen) Querschnitt durch die Bevölkerung, es sind Junge und Alte, Städter und Bauern, Intellektuelle und Analphabeten. Dies ist vielleicht, inmitten des grausamen Gemetzels, die Utopie, um die es diesem Film geht. Sie alle finden hier zusammen, und aus dieser Schlacht heraus soll das neue und friedliche China entstehen, in dem jeder seinen Platz hat. Auch die Nationalchinesen, so wird es jedenfalls impliziert.

In Taiwan, das schon 1976 eine eigene Version dieser Schlacht gedreht hat, mag man "The 800" als Drohung mit der Wiedervereinigung sehen, vielleicht aber auch als Aufruf zur Koexistenz. Und was soll die übrige Welt halten von diesem Film, vor allem die westliche, die in der internationalen Schutzzone quasi vorweggenommen wird? Bunte Lichter und Reklametafeln. Clubs, Casinos, Bars, und Theater. Kinos von Paramount und RKO. Firmennamen wie Siemens oder Goodyear, letzterer aufgedruckt auf einem Luftschiff, aus dem die Kämpfe von oben betrachtet werden. Das größte Firmenzeichen findet sich auf einer Seitenwand der Lagerhalle: Coca-Cola. Es ist allerdings verblasst, es hat jede Strahlkraft verloren. Und wenn die Kamera im letzten Bild in der Gegenwart ankommt, an der zum Museum gewordenen Lagerhalle hochzieht und formatfüllend das moderne Shanghai zu sehen ist, dann ist klar: China ist keine Kolonie mehr. China kann nun, ironisch gesprochen, selber kolonisieren. Indem es sich etwa zum Abspann westliches Liedgut aneignet. Ja, da wird "Danny Boy" gespielt mit chinesischem Text zuerst und dann auch, sozusagen als Konzession, mit irisch-englischem: "And I shall sleep in peace until you come to me."


Hu Guans "The 800" wird bei Streamingdiensten wie Magenta, Sky oder Amazon zum Leihen oder Kaufen angeboten.


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