Haben auch Sie mitgefoltert? Waren Sie am ersten Sonntag des Jahres auf der Seite des Polizeikommissars, der ein bisschen Waterboarding betrieben hat? Waren Sie entsetzt, oder sind Sie davon überzeugt, dass einem der Entführung Verdächtigten physische und psychische Pein bereitet werden darf, bis dieser verrät, wo er – wenn er denn der Täter ist – sein Opfer versteckt hält? Solche Fragen wollte das Erste Deutsche Fernsehen mit Ferdinand von Schirachs "Feinde" aufwerfen und beantworten. Ein Abend der öffentlich-rechtlichen Aufklärung also? Dies alles wurde schließlich erdacht und entworfen vom erfolgreichsten deutschen Autor der Gegenwart, der über sein Werk und sein Anliegen in angemessener (oder anmaßender?) Bescheidenheit sagt: "Wenn meine Bücher eine Bedeutung haben, dann liegt sie darin, dass sie versuchen, die Würde des Menschen zu verteidigen."
Das öffentlich-rechtliche Fernsehen und besonders die ARD feiern schon lange Ferdinand-von-Schirach-Festspiele, führen als Tribunale inszenierte Leben-und-Tod-und-Schuld-und-Sühne-und-Recht-und-Gerechtigkeits-Simulationen vor, bei denen der Zuschauer einbezogen wird und am Ende abstimmen darf. Mit den bestens besetzten TV-Adaptionen seiner Theaterstücke "Terror" (2016) und "Gott" (2020) ist der Autor quasi zum Deutschen Meister in Sachen Justiz und Moral geworden – und ein prima Quotenbringer dazu. Und nun, nach der "Terror"-Frage – darf man ein Passagierflugzeug mit vielen Menschen drin abschießen, um ganz viele andere Menschen zu retten? – und nach der "Gott"-Frage zur Sterbehilfe, endlich der Höhepunkt! Nun sollte nämlich gar niemand mehr Schirachs Verteidigung der Menschenwürde entkommen. Mit dem Film "Feinde" wurde flächendeckend aufgeklärt, dass es nur so eine Art hat, beziehungsweise, wie die ARD sich selber lobt, in einem "einzigartigen Fernsehereignis auf mehreren Ebenen."
Schirach und sein Sender haben ja nicht nur wochenlang ihr Programm mit "Feinde"-Trailern gespickt, sie zeigten uns das Geschehen, als es endlich soweit war, sogar zweimal: einmal aus der Sicht des Folter-Polizisten Peter Nadler ("Feinde – Gegen die Zeit"), ein andermal, und parallel ausgestrahlt in allen (!) dritten Programmen und in One, aus jener des Folter anklagenden Anwalts Konrad Biegler ("Feinde – Das Geständnis"). Danach wechselten das Erste und die Dritten die Filme aus, so dass an diesem Abend jeder Zuschauer beide sehen konnte. Dazu die Doku "Ferdinand von Schirach – Recht oder Gerechtigkeit?", und in der Mediathek und in One, wohl für junge und eilig moralinteressierte ZuschauerInnen, die 45-minütige Zusammenfassung beider Langfilme: "Ferdinand von Schirach: Feinde – Der Prozess". Wahnsinn! So viel Schirach war noch nie!
Ist das Volk folterbereit?
Ein bisschen enttäuschend allerdings, dass die ZuschauerInnen diesmal nicht abstimmen durften. Was Christine Strobl, Chefin der produzierenden ARD-Firma Degeto, so erklärt: "Das Filmprojekt 'Feinde' hat einen völlig anderen Ansatz. Es geht dabei nicht um eine klar zu beantwortende Frage wie zum Beispiel 'Schuldig oder unschuldig?'. Es geht um unterschiedliche Perspektiven." In einer Voraufführung allerdings hat die ARD eingeladene Polizisten, Juristen und Eltern doch abstimmen lassen. Ergebnis? Dass jemand, dessen Geständnis durch Folter erpresst wurde, freigesprochen wird, fand "trotz einiger sanfter Einflussnahme bei allen Befragten nur 46 Prozent Unterstützung" schreibt Sylvia Staude in der "Frankfurter Rundschau" und fügt hinzu: "Unter Polizisten sogar noch ein bisschen weniger."
2 Kommentare verfügbar
Stefan
am 16.01.2021wenn man über kritische Themen nach Ihrer Darstellung schon nicht mal mehr reden darf, wieso darf dann das Thema Euthanasie und die grausigen Verbrechen aus der Nazizeit immer wieder vorgekaut werden? Was ist an diesen Themen anders als an der Überlegung, die Folter…