Vom Großen ins Kleine: Begleitet von einem optimistisch-melodiösen Japan-Pop-Song schwenkt die Kamera aus dem Panorama eines blauen Himmels nach unten, blickt über eine Stadt am Meer, schwebt auf eine Siedlung zu und schließlich auf ein Haus mit rotem Dach. Was bisher dort drin geschah, rafft diese Familiengeschichte nun, während die Vorspanntitel laufen, in Standbildern zusammen, die von einem jungen Paar mit Hund erzählen und von der Geburt eines Sohnes. Und jetzt, vier Jahre später, senkt sich die Kamera noch einmal aus dem Himmel herab und fährt auf das Haus zu, dem inzwischen ein Anbau und ein umschlossener Garten hinzugefügt wurden, und drinnen erwartet der kleine Kun ungeduldig seine Eltern. "Du hast jetzt eine kleine Schwester!", sagt seine Mutter, und fügt hinzu: "Sei zärtlich zu ihr!" Kun staunt das Baby an, stupft vorsichtig eine winzige Hand und flüstert: "Ja ..."
Einwandvorwegnahme: In Mamoru Hosodas "Mirai – das Mädchen aus der Zukunft" gibt es streng genommen keine Kameraschwenks. Es handelt sich um einen Anime, also um einen japanischen Zeichentrickfilm, der freilich Techniken des Realfilms auf eigene Weise nachgestaltet und in seine besondere Ästhetik integriert. Wie in den Werken des Anime-Altmeisters Hayao Miyazaki ("Chihiros Reise", 2001) agieren auch bei seinem jüngeren Kollegen Hosoda ("Das Mädchen, das durch die Zeit sprang", 2006) typenhaft-karikiert gezeichnete (und damit identifikationsoffene) Personen in einer hyperrealistisch erfassten Umgebung. Leuchtend klare Farben, wechselndes Licht: Kuns Vater, ein Architekt, hat sein Haus in einer Mischung aus japanischer Tradition und Moderne entworfen, und wer genau hinschaut, kann in den Regalen Bücher zum Bauhaus, zu Frank Lloyd Wright oder zu Zaha Hadid erkennen. In der großen Küche aber ist dieser Vater, der sich Elternzeit genommen hat, noch überfordert, da kocht schon mal die Milch über, und als er einen Lappen nimmt und den Boden wischen will, tadelt ihn seine Frau: "Der ist für den Tisch!"
Vom Kleinen ins Große, überbordend und lustvoll
"Mirai" erzählt auch eine Ehegeschichte, in der die Verantwortlichkeiten neu ausgehandelt werden. Im Mittelpunkt aber steht der kleine Kun, dessen Begeisterung für das neue Familienmitglied schon bald verflogen ist. Wenn die Mutter ihm den Rücken zuwendet und das Baby stillt oder der Vater sich nervös auf seine Rolle als Hausmann konzentriert, kann Kun noch so sehr rumkrakeelen: Als kleiner Prinz ist er entthront, seine Privilegien sind an die Schwester übergegangen. Sogar der Großvater richtet seine Videokamera nur auf Mirai und es ist ihm lästig, wenn Kun sich faxenmachend ins Bild drängt. "Menno!" brüllt Kun dann zornesrot, was eine angemessene Übersetzung sein dürfte. (Wer allerdings japanische Tonlagen kennt und schätzt, sollte sich statt der etwas spröde synchronisierten Fassung eine untertitelte ansehen.) Einmal schleicht sich Kun ans Kinderbettchen und "spielt" mit Mirai, zieht das schlafende Schwesterchen an den Ohren, kneift ihm die Backen und haut ihm, als es brüllend erwacht, sogar eine Modellbahn-Lok aufs Köpfchen.
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