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15 000 Bäume

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Der Dokumentarfilm "Dil Leyla" begleitet eine Kurdin, die als Kind nach Bremen kam, auf dem Weg zurück in ihre Heimat in der Osttürkei. Dort wird sie, 26 Jahre alt und geprägt vom Aufwachsen in Deutschland, zur jüngsten Bürgermeisterin der Türkei gewählt. Dort, wo nun die Vergangenheit sich der Gegenwart bemächtigt, wie unser Kritiker meint.

Das Jahr 1993, Dokumentarszenen aus Cizre. Die Einwohner der Stadt in der Osttürkei feiern das kurdische Neujahrsfest. Plötzlich bahnen sich gepanzerte Fahrzeuge brutal ihren Weg, treiben Menschen in die Häuser oder an die Wand. Bewaffnete springen heraus, zerren einzelne aus der Menge, schließlich fallen Schüsse, die Bilder verlieren den Fokus, fallen ganz aus. Und jetzt spricht eine erwachsene Frau rückblickend aus dem Off: "Kinder vergessen so schlimme Ereignisse nicht." Es ist die Stimme von Leyla Imret, die in der kurdischen Stadt geboren wurde und fünf Jahre alt war, als ihr Vater, ein Kommandant der verbotenen PKK, bei den Kämpfen gegen den türkischen Staat getötet wurde. Leyla wird von der Mutter nach Deutschland geschickt und wächst bei einer Tante in Bremen auf. Sie absolviert eine Ausbildung zur Friseurin, besucht 2008 ihre Mutter und das Grab ihres Vaters in Cizre, und wird dort 2014, erst 26 Jahre alt, mit mehr als 80 Prozent der Wählerstimmen die jüngste Bürgermeisterin der Türkei.

Leyla Imret ist das, was man eine gestandene Frau nennt. In sich gefestigt, tatkräftig, pragmatisch. Sie spricht Kurdisch, geht auf Menschen zu, hört sich deren Probleme an, kann Diskussionen aber auch im Basta-Stil beenden: "Es muss gemacht werden und fertig." In den tristen Wohnvierteln will sie Spielplätze anlegen lassen, auch auf dem Markt schaut sie sich um und antwortet auf die Klage eines Händlers, es stinke hier, dass sie ja deshalb gekommen sei und ihre Ingenieure mitgebracht habe. Selbstbewusst tritt sie auf, aber nie arrogant. Sie trägt kein Kopftuch, manchmal westliche Kleidung wie Bluse und Jeans. Und sie wird als Autorität akzeptiert, auch von Männern, die gern ein Selfie mit ihr ergattern wollen. "Meine Heimat", sagt sie in diesem empathischen Film, und man glaubt ihr sofort.

Da ist eine Frau also nach vielen Jahren heimgekehrt, eine Frau, die nun bleiben, aber auch etwas verändern will. Bei einem Besuch in Bremen fährt sie einmal mit Verwandten durch einen Wald, es fällt der Satz: "Wenn Cizre auch so grün wäre", und man hört ihre stolze Antwort: "Wir haben 15 000 Bäume gepflanzt!" Wenn dieser Film immer wieder atmosphärische Bilder der graubraunen Großstadt am Tigris oder des steinig-kargen Umlands zeigt, dann versteht man Leylas Vorhaben, Kinderspielplätze zu bauen und vor allem ihre Sehnsucht nach Grün. Dann spürt man, was nie ausgesprochen wird: dass diese Frau und ihre Lokalpolitik eben auch vom Aufwachsen in Deutschland geprägt wurden.

Regisseurin will "von innen heraus erzählen"

Überhaupt hat die 1986 in Berlin geborene Aslı Özarslan, die an der Ludwigsburger Filmakademie studiert hat, einen bemerkenswert offenen Film gedreht. Sie begleitet Leyla Imret mit der Kamera, kommentiert die Szenen kaum. Sie verzichtet zugunsten eines subtilen Sounddesigns auf plakative Musik. Sie weiß genau, was sie zeigen will, lässt aber viel Raum für Randbeobachtungen. Das heißt auch: Aslı Özarslan traut dem Zuschauer einiges zu. Anders als etwa TV-Reportagen liefert sie nur wenige einordnende Erklärungen zur politischen Lage oder zu Land und Leuten. Sie wolle, so die Regisseurin bei der Vorpremiere im Stuttgarter Delphi, "von innen heraus erzählen", um vielleicht zum großen Bild zu kommen.

Noch wird von einer Zeit der Hoffnung erzählt. Der türkische Präsident Erdoğan scheint an einer Aussöhnung mit den Kurden interessiert, sogar in Cizre, früher Hochburg der PKK und Schauplatz eines Bürgerkriegs, könnte so etwas wie Normalität einkehren. Die legale Partei HDP, sagt Leyla Imret, stehe für Freiheit und Demokratie. Als die Wahl erfolgreich verläuft und die Zehnprozenthürde geknackt ist, wird in Cizre wieder gefeiert. Doch es dauert nicht lange und die große und gewalttätige Politik zerstört alles, was im Kleinen erreicht wurde. Erdoğan hat die alten Gräben wieder aufgerissen, in Cizre herrscht 85 Tage lang Ausgangssperre, Leyla Imret wird vom Innenminister für abgesetzt erklärt.

Sie akzeptiert ihre Amtsenthebung zwar nicht, muss aber abtauchen und ist auch für Aslı Özarslan lange nicht mehr zu erreichen. Die Dreharbeiten vor Ort müssen abgebrochen werden, der Film wird nun zu einer spannenden Montage aus Szenen, die in Bremen aufgenommen wurden, aus Gesprächen am Handy und aus Schnipseln von türkischen TV-Sendern, die den Ausnahmezustand auf ihre Art dokumentieren und behaupten, dass die Bürgermeisterin von Cizre eine Grenze überschritten habe und nun wegen "terroristischer Propaganda" und "Anstiftung zur Rebellion" angeklagt werde. Leyla Imret wird verhaftet, kommt wieder frei, darf aber das Land nicht verlassen.

Nach dem Putsch in der Türkei – und im Schatten des Irak- und Syrienkrieges – ist es wieder zu Kämpfen in den kurdischen Gebieten gekommen. Die Bilder, die der Film jetzt nutzt, zeigen Fassaden voller Einschusslöcher, zeigen ein Cizre in Trümmern. Die Ereignisse von 1993 haben sich also wiederholt, die Vergangenheit hat sich quasi der Gegenwart bemächtigt. "Ich konnte nichts machen", sagt Leyla auf dem Podium einer HDP-Veranstaltung. Zum ersten und einzigen Mal droht ihr die Stimme zu versagen, schnell wischt sie sich eine Träne aus dem Auge. Was sie denn als letztes von und über Leyla Imret gehört habe, wird Aslı Özarslan bei der lebhaften Diskussion nach der Vorführung im Delphi gefragt. "Es geht ihr gut", sagt die Regisseurin. Sie hofft, dass sie den Film, den Leyla Imret noch nicht gesehen hat, bald mit ihr zusammen vorstellen kann.

 

Info:

Aslı Özarslans "Dil Leyla" kommt am Donnerstag, dem 29. Juni in die deutschen Kinos. In Stuttgart läuft der Film im Arthaus-Kino Delphi donnerstags um 17.50 Uhr sowie freitags und sonntags um 16.10 Uhr. Welches Kino in Ihrer Nähe den Film zeigt, <link http: kinofinder.kino-zeit.de programmsuche dil-leyla external-link-new-window>finden Sie hier.


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