Das Jahr 1993, Dokumentarszenen aus Cizre. Die Einwohner der Stadt in der Osttürkei feiern das kurdische Neujahrsfest. Plötzlich bahnen sich gepanzerte Fahrzeuge brutal ihren Weg, treiben Menschen in die Häuser oder an die Wand. Bewaffnete springen heraus, zerren einzelne aus der Menge, schließlich fallen Schüsse, die Bilder verlieren den Fokus, fallen ganz aus. Und jetzt spricht eine erwachsene Frau rückblickend aus dem Off: "Kinder vergessen so schlimme Ereignisse nicht." Es ist die Stimme von Leyla Imret, die in der kurdischen Stadt geboren wurde und fünf Jahre alt war, als ihr Vater, ein Kommandant der verbotenen PKK, bei den Kämpfen gegen den türkischen Staat getötet wurde. Leyla wird von der Mutter nach Deutschland geschickt und wächst bei einer Tante in Bremen auf. Sie absolviert eine Ausbildung zur Friseurin, besucht 2008 ihre Mutter und das Grab ihres Vaters in Cizre, und wird dort 2014, erst 26 Jahre alt, mit mehr als 80 Prozent der Wählerstimmen die jüngste Bürgermeisterin der Türkei.
Leyla Imret ist das, was man eine gestandene Frau nennt. In sich gefestigt, tatkräftig, pragmatisch. Sie spricht Kurdisch, geht auf Menschen zu, hört sich deren Probleme an, kann Diskussionen aber auch im Basta-Stil beenden: "Es muss gemacht werden und fertig." In den tristen Wohnvierteln will sie Spielplätze anlegen lassen, auch auf dem Markt schaut sie sich um und antwortet auf die Klage eines Händlers, es stinke hier, dass sie ja deshalb gekommen sei und ihre Ingenieure mitgebracht habe. Selbstbewusst tritt sie auf, aber nie arrogant. Sie trägt kein Kopftuch, manchmal westliche Kleidung wie Bluse und Jeans. Und sie wird als Autorität akzeptiert, auch von Männern, die gern ein Selfie mit ihr ergattern wollen. "Meine Heimat", sagt sie in diesem empathischen Film, und man glaubt ihr sofort.
Da ist eine Frau also nach vielen Jahren heimgekehrt, eine Frau, die nun bleiben, aber auch etwas verändern will. Bei einem Besuch in Bremen fährt sie einmal mit Verwandten durch einen Wald, es fällt der Satz: "Wenn Cizre auch so grün wäre", und man hört ihre stolze Antwort: "Wir haben 15 000 Bäume gepflanzt!" Wenn dieser Film immer wieder atmosphärische Bilder der graubraunen Großstadt am Tigris oder des steinig-kargen Umlands zeigt, dann versteht man Leylas Vorhaben, Kinderspielplätze zu bauen und vor allem ihre Sehnsucht nach Grün. Dann spürt man, was nie ausgesprochen wird: dass diese Frau und ihre Lokalpolitik eben auch vom Aufwachsen in Deutschland geprägt wurden.
Regisseurin will "von innen heraus erzählen"
Überhaupt hat die 1986 in Berlin geborene Aslı Özarslan, die an der Ludwigsburger Filmakademie studiert hat, einen bemerkenswert offenen Film gedreht. Sie begleitet Leyla Imret mit der Kamera, kommentiert die Szenen kaum. Sie verzichtet zugunsten eines subtilen Sounddesigns auf plakative Musik. Sie weiß genau, was sie zeigen will, lässt aber viel Raum für Randbeobachtungen. Das heißt auch: Aslı Özarslan traut dem Zuschauer einiges zu. Anders als etwa TV-Reportagen liefert sie nur wenige einordnende Erklärungen zur politischen Lage oder zu Land und Leuten. Sie wolle, so die Regisseurin bei der Vorpremiere im Stuttgarter Delphi, "von innen heraus erzählen", um vielleicht zum großen Bild zu kommen.
0 Kommentare verfügbar
Schreiben Sie den ersten Kommentar!