Altern im Anti-Aging-Kapitalismus ist für jeden Jedermann und jede Jedefrau eine Schmach. Immer, wenn ich auf die Frage, was ich denn so mache, mit der Enthüllung "Ich bin Rentner" reagiere, ernte ich Spott. Rentner ist ein Synonym für Trottel. Für Gartenzwerg. Das Wort Rentner ist verpönt. Wir sind Verdammte des Verfalls. Mich stört das allerdings nicht, ich weiß zu schätzen, dass niemand länger das Recht hat, mich als seinen Ochsen einzuspannen. Ich habe die Chance, was zu tun.
Selbstverständlich weiß ich, wie beschissen es vielen Rentnerinnen und Rentnern geht. Das Thema Altern = Armut riecht schlecht. Wirkt nicht cool in einer Kolumne, deren Titel "Auf der Straße" einen Vorwärtsdrang ahnen lässt – oder gar die Courage, wider den Stachel zu löcken. Vielleicht sollte ich die Kolumne umtaufen in Dead End Street.
Mit Totenköpfen auf AfD-Nazis
Der Verdacht, mein Hinweis auf das Massaker des tabuisierten Alterns hätte einen akuten persönlichen Anlass, wäre falsch. Auch ein Waldweg ist nun mal eine Straße, und mein Weg im Wald verändert mich. Ich hasse ihn. Dennoch fühle ich mich noch relativ gut zu Fuß, weil ich als Spaziergänger nicht dem Olympia-Wahn des Joggers verfallen bin. Nach wie vor ist es mir im allgemeinen Temporausch eine Freude, mich im Vorwärtsgang auf eigenen Beinen zu wissen. Fuck your E-Bike!
Ich spaziere an einer Tafel zur Erinnerung an Robert Walser vorbei. 1895/96 hat der Dichter in der Gerberstraße 2a eine Weile bei seinem Bruder, dem Maler Karl Walser, gewohnt und darüber den kleinen Text "Die Brüder" verfasst. Bei der Lektüre wird mir klar, warum das Spiel mit meinem toten Hutkopf unterbewusst größere Bedeutung hat, als ich ahnte: "Ach es ist vielleicht … hundert-, wenn nicht gar tausendmal schöner, seinen oder seines Bruders Hut aus dem Fenster fliegen und wirbeln zu lassen, damit Vorübergehende unten staunen, als ein vollendetes Gedicht zu schreiben, damit das Publikum staune."
Und wie wird das Publikum unten erst staunen, wenn unsereiner eine Ladung grinsender Totenköpfe mit Hut aus dem Fenster im dritten Stock fliegen lässt, damit es auf der Straße nur noch so kracht und scheppert. Da müssen doch die Vorübergehenden, sofern ich sie nicht tödlich treffe, endlich begreifen, wie endlich wir sind auf dieser Welt. Und dass wir etwas mit uns anfangen müssen, damit wir nicht schon vor unserem Ende am Ende sind. Deshalb werde ich grinsende Totenköpfe mit Hut auf Vorübergehende in der Absicht hinunterwerfen, jeden Fünften von ihnen zu treffen, immer den, der laut Umfragen die AfD-Nazis wählt.
Ich lese in Walser Buch "Der Spaziergang", darin heißt es: "Leuten, die in einem sausenden, staubaufwirbelnden Automobil sitzen, zeige ich immer mein böses und hartes Gesicht, und sie verdienen auch kein besseres." Diese verdammten Automobilisten sollen denken, er sei ein Polizist in Zivil und habe sie im Auge, "denn ich begreife nicht", dass es "ein Vergnügen sein kann, so an allen Gebilden, Gegenständen, die unsere schöne Erde aufweist, vorüberzurasen. Als wenn man toll geworden sei und rennen müsse, um nicht elend zu verzweifeln."
So erklärt sich mir die elende Raserei der Tollen im Stuttgarter Kessel, wo unsere schöne Erde ihrer Schönheit eine Pause gegönnt und die Stadt mithilfe nicht geerdeter, reichlich Staub aufwirbelnder Politiker den Immobilienhaien überlassen hat.
Schnappen und werfen bis zum Abgang
Am Kleinen Schlossplatz komme ich mit bösem und hartem Gesicht an Transparenten vorbei, die an einem Bauzaun hängen. Diese mit Cartoons in Gelb und Rot gestalteten Dinger wurden zur Warnung aufgehängt, sie fordern gutes Benehmen von Menschen, die man anscheinend nicht per Sie ansprechen muss, vermutlich Rentner. Auf einem der Lappen steht: "Nutze bitte eine Toilette! Ein Verstoß kann ganz schön teuer werden." Auf einem andern heißt es: "Freitags, samstags und vor Feiertagen von 20 Uhr bis 6 Uhr Videobeobachtung am Schlossplatz, Kleinen Schlossplatz und im Oberen Schlossgarten". Ich danke für diese Aufklärung, jetzt weiß ich, wann ich mich unbeobachtet an den Bauzaun stellen und ganz schön günstig pinkeln kann.
1 Kommentar verfügbar
Christoph Behrendt
am 28.06.2023Wobei nur anzumerken bleibt: „Rentner“ ist ja nur ein verwaltungstechnischer Bezugs-Zustand, der manchmal günstigeren Eintritt mit sich bringt. Aber „Rentner“ ist ja keine Daseinsform. Um mich herum habe ich nur lauter Best Ager! Also sicherstellen:…