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Linke Ideologie

Gehirnwurm

Linke Ideologie: Gehirnwurm
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Fünf Minuten auf Twitter, Facebook und in zahlreichen bizarren Telegram-Gruppen mit Tausenden Followern reichen heute, um zu wissen: Nazis sind schon blöd. Aber die eigentliche Gefahr geht von links aus. Klarer Fall. Linker Mainstream hier, linke Ideologie da, linke Meinungsdiktatur überall.

GEZ-Gebühren: LINKE IDEOLOGIE!

Öffentlich-Rechtliche-Sender: LINKE IDEOLOGIE!

Gendersternchen: LINKE IDEOLOGIE!

Frauenquote: oh Gott, LINKE IDEOLOGIE!

Kindern im Bio-Unterricht erzählen, dass es mehr als Mann-und-Frau-Sex gibt: Jesus Christus, LINKE IDEOLOGIE!

Flüchtlinge nicht im Mittelmeer verrecken lassen: LINKE IDEOLOGIE!

Hartz-IV-Sätze erhöhen: LINKE IDEOLOGIE!

Mietpreisbremse: LINKE IDEOLOGIE!

Ehe für alle: Verdammte LINKE IDEOLOGIE!

Darauf folgt obligatorisch die freie Meinungsäußerung, dass man seine Meinung nicht mehr frei äußern dürfe. Aber egal: Wenn das so weitergeht, Leute, haben wir hier morgen Nordkorea.

Fair enough: Digitale Echokammern wie etwa die von Eva Hermann, Ken Jebsen, Heinrich Fiechtner, Martin Sellner oder Vegankoch Attila Hildmann sind nicht repräsentativ für die Stimmung eines ganzen Landes. Doch wenn ein Ministerpräsident wie Markus Söder vollkommen ironiefrei von seiner Sorge spricht, dass eine "Corona-RAF" bald das Land terrorisieren könnte, dann ist klar, dass rechte Erzählungen in Chatgruppen und digitalen Netzwerken kein bloßes Internetphänomen sind, sondern ganz analoge Auswirkungen auf ein gesamtgesellschaftliches Klima haben und öffentlich bestätigt in den digitalen Inkubatoren weiter ausgebrütet werden. Da muss man sich als Politiker doch ernsthaft mal fragen lassen, ob man noch alle Knödel in der Soße hat. Sorry.

Knallharte Realitätsverweigerung

"Corona-RAF" – das muss man sich echt mal auf der Zunge zergehen lassen. In einem Land, das zwischen 1990 und 2020 198 Todesopfer rechtsmotivierter Gewalt und vier Todesopfer linksmotivierter Gewalt verzeichnet. Puh. Das grenzt nicht nur an Schwachsinn. Das ist einfach knallharte Realitätsverweigerung – genau das, was auch in den sogenannten Sozialen Medien in der Nacht stattfand, in der in den USA das Kapitol von Trump-Fans gestürmt wurde: Für Trumpisten mit großer Twitter-Anhängerschaft war sofort klar: Die Linken waren's! "Die Antifa" habe die friedlichen Demokratiefeinde unterwandert, sich als Trump-Fans verkleidet und unter falscher Flagge das Kapitol gestürmt, um Amerika zu schaden. Das war das Narrativ, das sich in Windeseile weltweit verbreitete – und durch die Söder'sche Fantasie einer "Corona-RAF" in Deutschland weitergesponnen wurde. Trotz einer realen Bedrohung durch rechtsradikale Netzwerke wie den NSU. Obwohl das deutsche Kasperle-Äquivalent, die absurde Reichstagsstürmung im Zuge einer Querdenken-Corona-Demo im Sommer 2020, von Rechten geplant wurde.

Während die USA immerhin ein Land ist, in dem man schon "a damn commie" ist, wenn man gesetzliche Krankenversicherungen befürwortet, war Deutschland bis vor ein paar Jahren nicht durch besondere Paranoia vor einer kommunistischen Übernahme auffällig. Klar, RAF und so, übelübel. Aber nachdem die allerletzten Atemzüge linksextremistischen Terrors spätestens in den 1990er-Jahren erstickt wurden, war das Thema durch hierzulande. Niemand fühlte sich durch irgendwelche linken Vereinigungen, Marx-Lesekreise, Autonome, MLPD-Flugblätter vor Universitäten, "der Antifa" oder einer Handvoll Maoisten auf Stuttgart-21-Demos ernsthaft durch Linksextremismus bedroht. Warum auch? Hat's Herr Unerpressbar Schmidt der RAF doch richtig gegeben. Im neoliberalen Rausch der freien Marktwirtschaft gepanzert mit dem frenetischen Applaus eines satten Wohlstandsvolks - gab es ab den 1990ern nichts mehr zu fürchten.

Ein unausgesprochenes gesellschaftliches Agreement verbannte Menschenfeindliches an die Stammtische, sorgte dafür, dass die Hosenläden, aus denen rechter Muff kroch, in der Öffentlichkeit zu blieben. Daran hielt man sich weitestgehend, oft zähneknirschend. Bis die Flüchtlinge kamen. Und die AfD in den Bundestag einzog, um aus Angst und Überforderung Hass zu schmieden. Dann waren sie wieder offen, die Hosenläden.

Voll gefährlich: bunte Haare haben und Punk-Platten bestellen

Mit der AfD kam die Mär vom Linksextremismus, der genauso schlimm in Deutschland sei wie Rechtsextremismus – vom Staat aber nicht gleich verfolgt und bestraft würde. Plötzlich sollten Punkbands wie "Feine Sahne Fischfilet" verboten werden. Landtagsabgeordnete versuchten neue Begriffe für linke AktivistInnen zu prägen und verwendeten das Wort "Neofa" ("Neofaschisten") für Antifa. Mit der Unterstellung, dass der Staat und Parteien linke Strukturen unterstützen und finanzieren würde, verlangte die AfD sogar nach einem Untersuchungsausschuss, der ans Licht bringen sollte, wie das Volk von links unterwandert und staatlich finanziert werden würde. Egal ob Fridays for Future, Extinction Rebellion, zivilgesellschaftliche Initiativen oder Jugendzentren: Kein Versuch blieb unterlassen, progressive, emanzipative Lüftchen als Gefahren für Staat und Volk zu diffamieren.

Auch wenn diese Versuche nichts enthüllten, war ein Etappenziel erreicht: Rechtsextreme Gruppen kehrten den geistigen Müll der AfD dankbar auf und verbreiteten ihn munter weiter. So forderte etwa der Verein "Ein Prozent" "weiter zu bohren" im linken Milieu. Andere spielten der AfD eine Liste mit Namen von Kunden eines Duisburger Punk-Versandhandels zu, die sich die "National Sozialistische Hacker-Crew" illegal beschafft hatte. Dass später rauskam, dass es sich um eine Liste von Leuten handelte, die sich bunte Haarfarbe, Band-Shirts und Punk-Platten bestellte, hinderte die AfD nicht an ihrer Mission, beweisen zu wollen, wie tief Deutschland von der roten Gefahr umzingelt ist. Die AfD hat es geschafft, die Angst vor Links zu schüren und missbraucht sie politisch. Während vor der AfD die wenigsten überhaupt wussten, was "Antideutsche" sind, dass sie überhaupt existieren, werden einzelnen unmaßgeblichen Strömungen einer eh völlig zerstrittenen Linken plötzlich zur Staatsbedrohung Nummer Eins erklärt.

Um das Märchen vom linken Terror weiterhin im kollektiven Unterbewusstsein zu betonieren, kommt es dann zu Trick 17: Täter-Opfer-Umkehr. Statt einfach zuzugeben, dass es einem zum Beispiel schlichtweg nicht passt, dass man nicht mehr ungestraft "Neger" sagen und Frauen und andere marginalisierte Gruppen konsensual diskriminieren kann. Statt offen über konkrete Verlust- und Zukunftsängste oder diverse Ismen in jedem von uns zu sprechen, wird eine linke Ideologie herbeifantasiert, die Sprechverbote erteilt und morgen alle enteignet, entrechtet und ins Gulag schickt. So absurd diese Überzeugung erscheint: Sie ist für viele sinnhafter, als sich einmal wirklich mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich zu fragen, an genau welcher Stelle des eigenen Lebens diese berüchtigte "linke Ideologie" einen wirklichen Schaden angerichtet hat. Ernsthaft! Wo? Wie? Das interessiert mich.

Es ist schon irgendwie lustig, dass gerade die, die sich von einer linken Ideologie geknechtet fühlen, eine Gesellschaftsordnung verteidigen, die nur so überquillt vor Ideologie. Neoliberaler Ideologie, die Wirtschaft und Kapital fetischisiert und mit der erbarmungslosen Ausbeutung von Mensch und Natur Reichtum für wenige generiert, Rechtssysteme erschafft, die kleine Unternehmen abfucken, aber Weltbanken, Industrie und Großunternehmen legal durch Steuerlöcher schlüpfen lassen, um Milliarden zu scheffeln. Doch die Regeln der Märkte und der Ökonomie sind so sehr natürlich-religiös verinnerlicht, dass gar nicht mehr auffällt, wie krank die ganze Scheiße eigentlich ist. Es ist nicht die "linke Ideologie", die uns krank werden lässt. Die Wahrheit ist, es ist die Unzufriedenheit, die ein Gesellschaftssystem erzeugt, das Menschen zu habgierigen, neidischen Egozentrikern macht, die ständig in der Angst leben, dass andere mehr vom Kuchen bekommen als sie selbst. Dabei wäre genug für alle da.


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