KONTEXT:Wochenzeitung
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Joggen mit Stahlhelm

Joggen mit Stahlhelm
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Die Nachbarn fangen an, aus lauter Langeweile groben Unfug zu machen, Arschgeigen demonstrieren für Freiheit, Verschleierung ist jetzt staatlich verordnet. Dafür ist die Wohnungssuche genauso beschissen wie eh und je. Das Corona-Tagebuch von Elena Wolf, Teil 4.

Mittwoch, 15.4.2020

Der Spaß hat definitiv ein Loch – auf allen Leveln. Alle scharren mit den Hufen und warten auf den Startschuss auf die Koppel. Oder den Kopfschuss. Wie man's gerne hat. Das wissen auch Angela Merkel und ihre Knechte. Während ihrer Ansprache heute muss ich an meine Lieblings-Sprittis im Express am Ostendplatz denken, wie sie sich noch vor dem großen Shutdown gegenseitig ihr Mantra mit der Schnapslatte eingeprügelt haben: "DAS KÖNNEN DIE NICHT MIT UNS MACHEN!!!" Ist ja gut. Geht ja jetzt nach vorne! Schulen bisschen auf. Läden bisschen auf. Frisöre dürfen ihre Scheren schleifen. Und alle bitte mit Ganzkörperkondom in den Bus. Ich zieh' keinen Mundschutz an, sorry. No fucking way. Passt farblich nicht zu meinem blassen Teint. Und dann soll's bald ne super App geben, mit der man ganz toll checken kann, ob man sich mit Infizierten infiziert hat. Wieviel Virus muss man im System haben, dass man eine App abfeiert, die dokumentiert, wen ich in den vergangenen 14 Tagen getroffen habe? Erfindet einen Impfstoff und lasst mich mit dieser aktionistischen Kacke in Ruhe. Webcam-App fürs Badezimmer fänd' ich persönlich ne gute Idee. Damit ich prüfen kann, ob sich mein Nachbar, wie vermutet, von hinten nach vorne abwischt.

Großveranstaltungen sind bis 31. August tabu? Was heißt das? 1.000 Leute? 10.000 Leute? Weiß keiner. Wieso dürfen Frisöre wieder Haare schneiden, aber das Express am Ostendplatz mit 20 Sprittis Kapazität muss geschlossen bleiben? Denen wird von Wirt Željko zwar auch manchmal der Kürbis gewaschen. Aber immer schön "mit Augenmaß und Zuversicht" – so wie Finanzminister Scholz auch wieder zurück in die Zukunft will. Mit einer Maß und Zuversicht wär's lustiger.

Abends zu einer ILLEGALEN Wohnungsbesichtigung in einer Dreier-WG. Muss im Juni raus wegen Eigenbedarf. 1.600 Euro. Mit Staffelmiete. Jedes Jahr 40 Euro mehr. Mein Gott. Dann arbeite ich nur noch für ein Dach über dem Kopf.


Donnerstag, 16.4.2020

Junge, was ist mit meinen Nachbarn los? Morgens aufgewacht vom Presslufthammer. Mein Vermieter kam auf die Idee, ein Scheißhaus in den Waschkeller zu bauen. Wollte er schon lange tun. Jetzt hätte er die Zeit. Why not. Im Garten unter meinem Balkon wird ein Rasen gemäht, der so kurz ist, dass man Golf auf ihm spielen könnte. Am Wohnzimmerfenster auf der anderen Hausseite bin ich von einem riesigen Schwarm Bienen attackiert worden, weil der Hobby-Imker nebenan groben Unfug mit ihrem Zuhause angestellt hat. Aus purer Langeweile! In der Wohnung unter mir spielt ein Mädchen immer wieder dieselbe Melodie auf dem Saxophon. Und der größte Freak der Straße lässt sich wieder mal von einem ultra-miesen Drumcomputer zu einer Melodie auf der E-Gitarre begleiten, auf deren Titel ich seit drei Jahren nicht komme. Er hat immer das Fenster offen. Die ganze Straße soll zuhören. Ich habe explizite Folterphantasien mit Küchengeräten. Bullen rufen zwecklos. Es ist taghell. Wer sich nicht laut still beschäftigt, war nicht dabei bei #corona2020. Lesen kann ja niemand mehr.


Freitag, 17.4.2020

Habe heute gelesen, dass die Deutschen laut einer Statistik über 30 Prozent mehr Wein und Schnaps einkaufen als vor der Krise. "Deutschland im Corona-Rausch", titelt der Spiegel. "Wann es gefährlich wird und wie man gegensteuern kann". Wow. Jetzt sitzen die Deutschen mit der Pulle daheim in ihren Poggenpohl-Küchen, sind statt in der Corona-Hölle im Harald-Juhnke-Paradies und haben nix anderes zu tun, als Panic-Inception zu betreiben und von der Panik in die Makropanik zu rutschen, ob sie jetzt Alkoholiker sind oder nicht. Mein Gott, chillt euch: Keine Termine und leicht einen sitzen – wo ist das Problem?

Mir ist lieber, die Deutschen erkennen jetzt endlich mal das Nichtstun als konstitutives Moment von Kreativität offiziell an, als dass sie sich plötzlich ALLE zwanghaft joggend durch die Wohngebiete schleppen und mich zwingen, den säuerlichen Laufwind einzuatmen, den sie wie ein unsichtbares Superhelden-Cape hinter sich herziehen. "Schaut mich an, wie geil sich mein rasierter Sack unter der Gore-Tex-Dreiviertel-Spandex abzeichnet und meine mega-hässliche, vollverspiegelte Uvex-Neonazi-Sonnenbrille eure eigene Unzufriedenheit reflektiert!" Aber hey, Nichtstun macht man einfach nicht. Asozial! Immer in Bewegung bleiben! Damit ja niemand auf die Idee kommt, man sei nicht produktiv. Spiele auch mit dem Gedanken, mal wieder joggen zu gehen. Dann aber mit Stahlhelm.


Samstag, 18.4.2020

Heute war Demo auf dem Stuttgarter Schlossplatz. "Für Freiheit. Für Frieden. Für unser Grundgesetz" und gegen das Versammlungsverbot in der Krise, schreiben die "Stuttgarter Nachrichten". Paar Leute waren wohl da. Man wusste aufgrund der Abstandsregel nicht, wer DemonstrantIn oder PassantIn war. Ex-AfD-Arzt Fiechtner soll auch grinsend rumgeflitzt sein. Auf Facebook haben sich Leute über seinen "T-Rex-Arm" lustig gemacht. Schön weit das Maul gegen die AfD aufreißen – aber sich dann öffentlich über körperliche Behinderung lustig machen. Nix begriffen.

Mir fällt es gerade wirklich schwer, Arschgeigen von Arschgeigen abzugrenzen. Ein Michael Ballweg hat die Demo organisiert. Kurz angestalkt und rausgefunden, dass jemand mit demselben Namen vor zehn Jahren mal ne App entwickelt hat, die Kinder überwachen und dokumentieren sollte, ob sie da sind, wo sie sagen, dass sie sind. Grauenvoll. Gab mal ne Episode der Serie "Black Mirror" auf Netflix über eine Mutter in einer dystopischen Zukunft, die ihrem Kind eine Kamera ins Gehirn pflanzen lässt und 16 Jahre alles rund um die Uhr ausspioniert, was die Tochter so als Teenager treibt. Am Ende schlägt die Tochter die Mutter mit einem Ipad tot. Die App von Herrn Ballweg ist nicht mehr im App-Store. Wie passt das alles zusammen? Nur einmal in so ein Gehirn schauen dürfen ...

Es ist grade echt zum Verrücktwerden: Leute tun die richtigen Dinge aus den falschen Gründen – und andere tun die falschen Dinge aus den richtigen Gründen. Skeptisch sein gegenüber Befehlen von oben: geil. Demo organisieren für Freiheit und Bla: geil. Wenn Freiheit aber heißt, dass sich einfach wieder Tausende Menschen pro Tag durch die Geschäfte und U-Bahnen drücken sollen, dann ist das einfach momentan nicht geil, sondern einfach nur sehr, sehr dumm. Von was für einer Freiheit reden wir eigentlich? Um was geht es Menschen wie Michael Ballweg? Die Freiheit, Omas beim Altenheimbesuch anzustecken? Die des Marktes? Die Freiheit, Arbeiter in der Fabrik wieder ordentlich knechten zu können, damit sie dem Chef die möblierte Fünftwohnung in München finanzieren können? "Lernt von Vietnam und macht nicht unsere Wirtschaft kaputt" steht auf dem Schild eines Demo-Teilnehmers. "Die Wirtschaft! Die Wirtschaft! Die Wirtschaft!" Fuck, ich kann's nicht mehr hören.


Sonntag, 19.4.2020

Heute wieder 'ne Wohnung besichtigt: 2,5 Zimmer, rund 60 Quadratmeter, Stuttgart Süd, für 500, ich wiederhole 500 Euro warm. WARM! Ein Freund hatte mich über drei Ecken auf Facebook unter dem Angebot verlinkt. Ich musste lachen, weil ich dachte, es sei ein Witz. Sofort geschrieben. Wahnsinn: gemütlich runtergerockter Altbau. Große Küche, Wintergarten. Bisschen renovieren. Kein Problem. Dass es so was gibt! Leute, die einen nicht mit vollkommen irren Mietpreisen ausbluten lassen, weil sie einfach komplett auf jegliche Menschlichkeit scheißen DÜRFEN, LEGAL! Jetzt kommt's auf die Vermieterin an. Ich kann an nichts anderes denken, rede mir aber ein, dass ich cool bleibe. Lieber nix erwarten, als wieder enttäuscht werden.

Hab mir schon sieben Wohnungen angeschaut in letzter Zeit. Das sind sieben vollständige Lebensrealitäten, in die man sich automatisch immer reinsteigert, weil man sich vorstellt, wie man in der Wohnung, MIT der Wohnung lebt. Und dann setzt ein verwitwetes Klemmbrett die Nadel an den pinken Herzchenballon – und puff: Alle Energie, aller Aufwand, alle Unterlagen, alles umsonst. "Ich habe mich noch nicht entschieden, habe aber momentan andere Präferenzen", hat mir das Klemmbrett geschrieben, dem eine Wohnung im Stuttgarter Osten gehört. WTF? Das heißt soviel wie: "Sie sind scheiße, aber ich melde mich vielleicht nochmal, wenn die anderen noch beschissener sind als Sie." Un-fucking-fassbar. Und am Ende haben die trotzdem die intimsten Daten von einem: Kontoauszüge, Gehaltsabrechnungen, Schufa, Adresse, Personalausweiskopie. Irgendwann muss man bei Wohnungsbesichtigungen noch eine Stuhlprobe abgeben. Gerne. Eine ganze Schubkarre davon, frei Haus!


Montag, 20.4.2020

Bin mal gespannt, wie's die nächsten Wochen in meinem Freundeskreis abgeht: DJs, FotografInnen, MusikerInnen, Gastro-Menschen und andere FreiberuflerInnen. Manche haben sich durch die Unterlagen zur Soforthilfe gequält und sitzen jetzt daheim und wissen nicht, wie, was, wann. Mieten laufen aber weiter, und das Finanzamt will seine Kohle auch irgendwann ... Horror. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben sowas wie milde Dankbarkeit gespürt, einer Lohnarbeit nachgehen zu DÜRFEN. Wirklich! Komplett irres Gefühl. Irgendwas geht immer, war meine Devise. Wenn ich kein Rockstar werden, arbeite ich halt in ner Bar oder werd' Politikerin. Zukunftsängste hatte ich nie. Aber was für ein Glück, dass ich für meine Arbeit nur einen PC und ein Handy brauche und auch jetzt ganz normal bezahlt werde!


Dienstag, 21.4.2020

Okay. Es ist passiert. Maskenpflicht in Baden-Württemberg. Geil. Vor zwei Monaten wurde in den Medien noch empört über Verschleierung diskutiert, weil sich irgendwelche schwerst emanzipierte Hardcore-Muslimas mit der Niqab an Uni und Schulen einklagen wollten. Ab nächsten Montag muss ich Strafe zahlen, wenn ich mein Gesicht nicht bedecke. Haha. "Wir müssen uns vielleicht drauf einstellen, dass es normal wird, mit Masken rumzulaufen, wie in asiatischen Ländern", sagt Kretschmann. "Zur Not tut's auch ein Schal." Alles klar. Ich bestell mir jetzt nen Klassensatz fancy "Desert Dresses" für mich und meine Band. Schützt nicht nur vor feuchter Aussprache, sondern "Versteckt Ihre Schönheit für den einen besonderen Menschen." WOW. In sieben verschiedenen Farben, die allemal trendbewusster sind, als dieses hässliche Krankenhaus-Mintgrün. Ist mir einfach zu 2018. Ich bin jetzt mal draußen.


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1 Kommentar verfügbar

  • Fritz Schwab
    am 28.04.2020
    Antworten
    Eigentlich geht der ganz normale Wahnsinn weiter - nur jetzt halt mit Corona ; deshalb bitte liebe politisch unkorrekte Helena: weiter schreiben!
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