KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Lilli Weinstein

Kunst am Rande der Gesellschaft

Lilli Weinstein: Kunst am Rande der Gesellschaft
|

Datum:

Die Künstlerin und Fotografin Lilli Weinstein hat als Stipendiatin in einer Reutligner Einrichtung für Menschen mit Behinderung ein Magazin entwickelt. Und entdeckte dabei auch eigene Wurzeln.

Zurück Weiter

Franzi erzählt, wie sie als Rollstuhlfahrerin einen Holocaust-Gedenktag besuchte. "Leider", schreibt sie, "stelle ich immer wieder fest, dass ich sichtbar die einzige Person mit Behinderung bin, beziehungsweise die einzige Interessierte im Rollstuhl." Sie weiß, dass in jener Einrichtung, in der sie zuhause ist, zur Zeit des Nationalsozialismus 73 Menschen ermordet wurden. Sie schreibt: "Ich denke oft: Auch ich wäre ein Opfer gewesen."

Roe dagegen, der eigentlich Robert heißt, sitzt im Rollstuhl und hat ein Modefaible. Er trägt angesagte Hiphop-Klamotten, coole Sneaker, hat eine Wollmütze auf dem Kopf oder eine schwarze Basecap mit dem Logo des VfB, und immer eine Sonnenbrille auf der Nase.

Annette wiederum berichtet von ihrer Laufbahn als Orchestermusikerin, als Geigerin in Stuttgart, von ihrer Kindheit in Filderstadt, ihrer Hochzeit, von ihren Kindern. Und von ihrer Erkrankung: "Ich hatte wohl ein Aneurysma", schreibt sie. "Ich habe die Geister gehört von meiner ganzen Familie. Die waren so um mich herum. Das hörte sich an, als würden Leute auf der Straße stehen und reden. Dann bin ich aufgewacht. Beim Aufwachen dachte ich: Scheiße. Das denke ich heute noch."

Fast wie ein autarker Stadtteil

Franzi, Roe und Annette erzählen ihre Geschichte auf den Seiten von "Rappaz", einem Magazin, das die Kölner Künstlerin und Fotografin Lilli Weinstein entwickelt hat. Sie alle sind Bewohner:innen von Rappertshofen, einer, so die Definition, gemeinnützigen Einrichtung für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung in Reutlingen, kurz "Rapperts" genannt, so kam auch der Name des Magazins zustande.

Rappertshofen liegt zwischen den Reutlinger Stadtteilen Orschel-Hagen und Rommelsbach, wirkt dabei fast wie ein autarker Stadtteil. Erbaut wurde die Einrichtung 1894 als sogenannte Landesarmenanstalt. Nach dem Zweiten Weltkrieg und den Morden, von denen Franzi spricht, wurde Rappertshofen vom Landeswohlfahrtsverband Württemberg-Hohenzollern geführt, seit der Auflösung des Verbands 2004 ist die Tübinger Habila GmbH der Träger. 190 Menschen mit Behinderung leben heute in der zentralen Pflegeeinrichtung, 75 werden in Außenwohngruppen betreut.

Lilli Weinstein möchte mit ihrer Kamera soziale Zusammenhänge abbilden. Sie zeigt Menschen, spürt dem nach, was sie verbindet, portraitiert sie in ihren Lebenszusammenhängen. Ein Jahr lang lebt sie als Kunststipendiatin in Rappertshofen.

Seit 2017 vergibt die Einrichtung ein solches Stipendium und ist, wie Norbert Peichl sagt, damit die einzige ihrer Art in Deutschland. Peichl ist ein ehemaliger Leiter von Rappertshofen und aktuell Vorsitzender des Beirates, der das Kunststipendium vergibt. Der Sinn des Stipendiums, sagt er, bestehe nicht nur darin, den Bewohner:innen eine sinnvolle, identitätsstiftende Beschäftigung zu geben. Ziel sei es auch, die Einrichtung nach außen hin zu öffnen. "Lilli Weinsteins sensible Art, Kontakte aufzubauen und in ihre künstlerische Arbeit zu integrieren", sagt Peichl, "fand ich sehr mutig und gewagt."

Eine kleine, aber sichere Welt

"Eigentlich", sagt Lilli Weinstein, "bin ich eher schüchtern. Es fällt mir schwer, auf Menschen zuzugehen." Die Kamera ist für sie ein Instrument, das Brücken baut, Zugänge öffnet. Mithin das richtige Instrument also, sich einer Welt zu nähern, die oft unsichtbar bleibt. Denn eines entdeckte Lilli Weinstein schon bald: "Um Inklusion geht es hier eigentlich nicht. Es fühlt sich alles viel eher sehr exklusiv an."

Die Bewohner:innen des Pflegeheims leben in einer kleinen Welt, die sie oft wochenlang nicht verlassen. Diese kleine Welt aber bietet Sicherheit. Sie hat ihre eigenen Regeln und weniger Hürden. Es ist eine Welt, die abgestimmt wurde auf die Bedürfnisse der Menschen, die in ihr leben. "Draußen" dagegen sind es die Menschen, die sich anpassen müssen. "Es wäre ein Traum, der nächste Schritt, wenn diese Blase sich öffnen und all das überschwappen würde auf ein ganzes Stadtviertel, ohne dass diese Sicherheit dabei verloren geht", sagt Weinstein. Eine Utopie, geboren aus Solidarität mit jenen, die den Standards einer leistungsorientierten Gesellschaft nicht gerecht werden.

Es gibt auch jene zweite unsichtbare Welt, die der Pfleger:innen und Therapeut:innen, die in Rappertshofen arbeiten. Ihr ist Lilli Weinstein in den Monaten, die sie dort bislang verbrachte, wenig nahegekommen. Der Pflegenotstand macht sich auch in Rappertshofen bemerkbar, die Stimmung hat sich geändert. Darko, ein Bewohner, erzählt, in "Rappaz": "Ich habe zu einer Pflegeperson gesagt, dass sie mir die Socke hochziehen soll. Sie hat es nicht gemacht, sondern gesagt: 'Mach es doch selber'. Und so etwas kommt öfter vor. Es geht darum, dass mir vorgeworfen wird, dass ich faul bin und nichts selbermachen will, aber ich brauche einfach Hilfe bei manchen Sachen. Manche sehen nicht, dass ich sie brauche." Lilli Weinstein hat versucht, auch dieses Ungleichgewicht in ihrer Arbeit sichtbar zu machen. "Vielleicht", sagt sie, "erreicht das nicht unbedingt die Personen, die es betrifft, aber es ist das, was ich als Künstlerin anbieten kann."

Rostexperimente und Tattoos

In der zweiten Ausgabe von "Rappaz" tritt nun auch Sandro auf, Haustechniker, er erzählt von seiner Arbeit, und davon, wie er vor vier Jahren ein starkes Hochwasser erlebte. "Die Archivräume mussten danach aufgeräumt werden", schreibt er. "Bis zum ersten Regalboden war alles unter Wasser, Dokumente und Ordner schwammen da rum. Ein Fenster ist rausgebrochen, wahrscheinlich vom Druck. Da sieht man, was für eine Kraft Wasser eigentlich hat." Im ersten Heft erzählte "Dr. Schmidt", früher Kinderarzt in Orschel-Hagen, von der Vergangenheit der Einrichtung, auch von Rappertshofen im Nationalsozialismus.

Bei den "Rappaz"-Redaktionssitzungen geht es zuerst um Austausch, um Begegnung. Das Heft selbst entsteht nach und nach, aus all den Geschichten, Erinnerungen, Projekten, die dabei zusammenkommen. Sabine spricht zum Beispiel darüber, was der Begriff "zuhause" für sie bedeutet. Felix, ein Autofan, der sich schon immer fragte, weshalb Autos rosten, stellte Rostexperimente an. Celina, 20 Jahre alt, zeigt Fotos ihrer Tätowierungen. Menschen berichten vom Leben und Arbeiten in Rappertshofen, lassen ihre Erinnerungen Revue passieren und Lilli Weinstein findet Bilder, die all dies begleiten. Die Bewohner:innen basteln, zeichnen, malen, entdecken sich selbst. Rebekka, eine Rollstuhlfahrerin, hat, gemeinsam mit Lilli Weinstein, ein eigenes Lied geschrieben, über das Leben in Rappertshofen: "Ihr seid meine kleine Welt", singt sie. "Eure Stimme tut mir so gut. Wenn ich euch etwas erzähle kann ich ich sein und bin frei." Sie singt es und strahlt.

Auf den Spuren der eigenen Geschichte

Auch Lilli Weinstein hat eine Geschichte, die sie mit diesem Ort verbindet. Auf dem Gelände der Einrichtung befand sich einst ein Haus, das erst als Mädchenheim diente und später dann zum Flüchtlingsheim wurde. Dort lernten sich Lilli Weinsteins Eltern kennen. Ihr Vater war als jüdischer Immigrant aus der Sowjetunion nach Deutschland gekommen, ihre Mutter arbeitete für das Deutsche Rote Kreuz. Die Geschichte ihrer Eltern führte Weinstein auch in die Archive von Rappertshofen, wo sie Spuren ihrer Mutter fand, einen Briefwechsel beispielsweise, in dem die Mutter erwähnt wird als eine junge Frau, die nachts über ein Schlagloch stolperte, woraufhin eine Straßenlaterne installiert wurde. 2010 wurde jenes Haus schließlich abgerissen. Eine steinerne Brunnenkugel, die nun im Innenhof des Hauptgebäudes liegt, ist alles, was von ihm geblieben ist. Weinstein blickt über den Zaun, der das verwilderte Gelände umschließt, auf dem sich ihre Eltern zuerst begegneten. Sie hat begonnen, auch diese Geschichte aufzuarbeiten, dreht einen kurzen Film, in dem ihre Eltern erzählen. "Das hier", sagt sie, "war das erste, das mein Vater von seiner neuen Heimat in Deutschland gesehen hat."

Vom 19. September an wird in der Mehrzweckhalle Rappertshofens eine Ausstellung mit Fotoarbeiten und Collagen von Lilli Weinstein zu sehen sein. Mit ihr beendet sie ihr Kunststipendium. Sie hofft, ihre Kontakte aufrechterhalten, sowie die Arbeit an "Rappaz" weiterführen zu können. "Ich habe hier viel Vertrauen aufgebaut. Keines der Projekte, die ich begonnen habe, endet, weil ich denke, dass es gesättigt ist und da nichts mehr zu entdecken wäre", sagt sie. "Ich glaube, der Aufenthalt hier wird lange in mir nachhallen. Ich habe das Gefühl, dass ich sehr viel von dem, was ich hier erlebt habe, später erst verstehen werde."

Wir brauchen Sie!

Kontext steht seit 2011 für kritischen und vor allem unabhängigen Journalismus – damit sind wir eines der ältesten werbefreien und gemeinnützigen Non-Profit-Medien in Deutschland. Unsere Redaktion lebt maßgeblich von Spenden und freiwilliger finanzieller Unterstützung unserer Community. Wir wollen keine Paywall oder sonst ein Modell der bezahlten Mitgliedschaft, stattdessen gibt es jeden Mittwoch eine neue Ausgabe unserer Zeitung frei im Netz zu lesen. Weil wir unabhängigen Journalismus für ein wichtiges demokratisches Gut halten, das allen Menschen gleichermaßen zugänglich sein sollte – auch denen, die nur wenig Geld zur Verfügung haben. Eine solidarische Finanzierung unserer Arbeit ermöglichen derzeit 2.500 Spender:innen, die uns regelmäßig unterstützen. Wir laden Sie herzlich ein, dazuzugehören! Schon mit 10 Euro im Monat sind Sie dabei. Gerne können Sie auch einmalig spenden.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


0 Kommentare verfügbar

Schreiben Sie den ersten Kommentar!

Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!