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Fehlende Barrierefreiheit

"Da krieg' ich das Kotzen"

Fehlende Barrierefreiheit: "Da krieg' ich das Kotzen"
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Johann Kreiter sitzt im Rollstuhl. Selbstbestimmt leben will und kann er dennoch, von der Welt hat er mehr gesehen als viele andere. Seit einigen Monaten ärgert sich der Stuttgarter: Seine neue SWSG-Wohnung ist nicht gänzlich barrierefrei. Einziehen musste er trotzdem.

Wenn Johann Kreiter von seiner Leidenschaft spricht, strahlt sein Gesicht: die Welt erkunden. "Inzwischen habe ich 51 Länder bereist", erzählt der 75-Jährige stolz. Dass er seit Teenagertagen wegen Kinderlähmung im Rollstuhl sitzt, hat ihn nicht von seinen Zielen abgebracht (Kontext berichtete). Er lebt und verreist autonom, soweit es geht. Bei seiner letzten größeren Reise nach Thailand hatte er eine Helferin dabei.

Der gebürtige Münchner ist gelernter Uhrmacher, war später in der Film- und Fototechnikbranche tätig, schulte dann um zum Gerätemechaniker, bevor er schließlich Berater in einem Sanitätshaus wurde. Jahrelang hat er sich eingesetzt für Menschen mit Behinderung, die mehr von der Welt sehen wollen, war im Bundesvorstand des Vereins "Nationale Koordinationsstelle Tourismus für Alle". Für sein Engagement erhielt er vom Tourismusausschuss des Bundestags 2011 eine Auszeichnung. Die Urkunde hängt nun an einer Wand in seinem Arbeitszimmer.

Jahrelang wohnte er in Stuttgart in der Wohnanlage Fasanenhof im Laubeweg, die der Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft (SWSG) gehört. Die Wohnung dort sei "optimal" und wirklich barrierefrei gewesen, schwärmt Kreiter – im Gegensatz zu seiner jetzigen. Denn er musste umziehen, weil das Gebäude im Laubeweg sanierungsbedürftig war: Legionellen im Wasser, vermooster Asbest in der Außenfassade, undichte Fenster und immer wieder ausfallende Fahrstühle – keine Zustände für ein Wohnhaus, das auf Menschen mit Behinderungen ausgelegt ist. Vergangenes Jahr begannen dort die Arbeiten und Kreiter bekam, wie die anderen Bewohner aus dem Laubeweg, eine Wohnung im einstigen Bettenhaus des ehemaligen Bürgerhospitals zugewiesen. 136 Wohnungen hat die Gesellschaft dort aus früheren Krankenzimmern geschaffen, darunter laut SWSG 20 barrierefreie. Doch Kreiter fragt sich: Wo sollen die sein?

Notarzt muss beim Nachbarn klingeln

Erst kürzlich musste er wieder erleben, wie seine neue Wohnung ihn in seiner Autonomie einschränkt: Kreiter liebt die Geschwindigkeit. In den 1970er-Jahren ist er viel Kart gefahren, wie eine Fotocollage an der Wand zeigt. Heute ist er immer noch gerne zügig unterwegs – eben mit dem Rollstuhl. Geschwindigkeitsbegrenzung? "Das Wort müssen Sie mir übersetzten", sagt er und lacht. "Ich mag rennen, es muss schnell gehen." Einfach so "dahinleben", am Tisch sitzen, "Zeitung lesen und Nasenbohren", das könne er nicht. "Ich brauche gewisse Herausforderungen."

Manchmal ist er offenbar zu schnell: Als er vor wenigen Wochen mit hoher Geschwindigkeit eine Kurve nehmen wollte, ist er gestürzt, prellte sich Arm und Schulter. Zum Glück sei nichts gebrochen gewesen, sagt er. Passant:innen, die den Sturz beobachteten, halfen ihm zurück zur Wohnung. Dort rief er den Notarzt – weil aber Klingel und Fernsprechanlage nicht immer zuverlässig funktionieren, musste ein Nachbar den Arzt reinlassen. "Da krieg' ich das Kotzen", schimpft der 75-Jährige.

Die störanfällige Klingel- und Sprechanlage ist längst nicht das einzige Problem, das Kreiter mit seiner Wohnung hat, wie er bei einem Besuch zeigt: Allein die Lage des Wohnhauses nennt der gebürtige Bayer "eine Katastrophe". Von der Innenstadt kommend geht es nämlich von der Heilbronner Straße bergauf. Bei schlechtem Wetter oder im Winter, wenn es glatt ist, "bin ich auf gut Deutsch gesagt im Arsch". Die Brüstung seines Balkons reicht ihm bis auf Augenhöhe, sodass er nicht auf die Straße blicken kann. Dasselbe Problem bei den Fenstern im Arbeitszimmer: "Ich sitze am Schreibtisch und kann gerade noch zum Fenster herausschauen, aber eigentlich sehe ich nichts außer die Wand vom Nachbarhaus." Dabei müssten laut DIN-Norm für barrierefreies und rollstuhlgerechtes Wohnen Brüstungen ab einer Höhe von 60 Zentimetern zumindest durchsichtig und Fenstergriffe in Greifhöhe von höchstens 105 Zentimetern angebracht sein.

Waschbecken zu hoch, Kühlschrank zu tief

Dann zeigt er das Badezimmer. Hier passt einiges nicht zum Rollstuhl, angefangen beim Waschbecken: "Es ist zwar unterfahrbar, aber deutlich zu hoch." Wenn er sich waschen will, muss er sich mit seinen Armen am Becken abstützen. Neben dem Toilettensitz müsste laut DIN-Norm zumindest auf einer Seite 90 Zentimeter Platz sein, sodass er vom Rollstuhl aus seitlich übersetzten kann, außerdem sollte die Spülung ohne Änderung der Sitzposition erreichbar sein. Auch das ist in Kreiters Badezimmer nicht gegeben. Zu wenig Platz sei auch in der Dusche, sagt Kreiter. In der ist zwar ein Deckenlift eingebaut, um einen Haltegriff musste er sich aber selbst kümmern.

Noch deutlicher offenbart sich die fehlende Barrierefreiheit in der Wohnküche: Bis auf einen einzigen für Kreiter leicht zugängliches Unterschrank, den Kreiter selbst kaufen musste, sind sonst nur Hängeschränke über der Küchenzeile montiert – für den 75-Jährigen vom Rollstuhl aus unerreichbar. Er behilft sich mit einem Greifarm, um sie zu öffnen, ein- und auszuräumen. Umgekehrt verhält es sich mit dem Kühlschrank: Der ist nur knapp über dem Boden eingebaut worden, die untersten Fächer sind vom Rollstuhl aus kaum zu erreichen. Ein paar Zentimeter höher und er wäre eigentlich optimal platziert.

Ob beim Mieterbeirat, dem er bis zum Umzug selbst angehörte, per Service-Rufnummer oder Anschreiben: Kreiter hat laut eigener Aussage mehrmals auf die Probleme hingewiesen. Ihm sei lediglich gesagt worden, man gebe es weiter. "Aber da tut sich einfach nichts." Auch viele Nachbar:innen seien unzufrieden mit ihrem neuen Quartier. Die würden sich aber im Gegensatz zu ihm nicht beschweren wollen, schon gar nicht öffentlich. Einige bekämen auch die Wohnung bezahlt und erhielten Sozialhilfe, sagt Kreiter. Sie hätten Angst, die Wohnung zu verlieren, wenn sie Kritik äußerten, meint er.

SWSG: "in engem Austausch" mit den Mieter:innen

Wie kommt es dazu, dass die Wohnungen als barrierefrei gelten, aber offenkundige Hürden bergen? Die SWSG weicht dieser Frage aus: "Für die Bewohnerinnen und Bewohner des Laubewegs wurden die Wohnungen unter Berücksichtigung ihrer individuellen Anforderungen und Wünsche barrierefrei und zum Teil auch rollstuhlgerecht gestaltet", heißt es seitens der SWSG-Pressestelle. Das sei "in enger Abstimmung mit den Bewohnerinnen und Bewohnern" passiert, "insbesondere die Planung der Küchen und Bäder". Kreiter bestätigt: Bevor die Bewohner:innen aus der Wohnanlage Fasanenhof umgezogen sind, seien sie gefragt worden, wie die Wohnungen einzurichten seien. Nur: Vieles wurde schlicht nicht umgesetzt. Die Mitarbeiter:innen der SWSG reden mit den Mieter:innen und würden dann die Architekt:innen beauftragen – da ginge einiges verloren, so seine Vermutung. Er finde es sinnvoller, wenn die Architekt:innen direkt mit den Mieter:innen in Kontakt treten würden.

Dass es Mängel in den Wohnungen des ehemaligen Bettenhauses gibt, weiß die SWSG offenbar. Man habe "bereits einige weitere Anpassungen vorgenommen", andere "stehen vor der unmittelbaren Umsetzung, wie etwa die Justierung der Waschtischhöhe", heißt es auf Kontextanfrage. Generell stünden sie "in engem Austausch" mit den Mieterinnen und Mietern. Nachfrage bei Kreiter: Hat sich wirklich was getan? Bei ihm habe sich keiner gemeldet, beteuert er. Er wisse von einer Nachbarin, die das zu hohe Waschbecken bemängelt hat. Dieses niedriger zu verbauen, hätte aber bedeutet, dass einige Tage das Wasser abgestellt werden müsste. Daraufhin habe sie verzichtet.

Im September nächsten Jahres sollen laut SWSG die Arbeiten an der Wohnanlage im Fasanenhof fertig sein. Immerhin – laut Kreiter hieß es zuerst, dass er Anfang 2027 zurückziehen könne. Ob dann die Miete im Laubeweg wegen der Sanierung steigen wird? Da bleibt die kommunale Wohngesellschaft vage: "Die Miete wird weiterhin deutlich unter dem Mittelwert des Mietspiegels liegen."

Wann auch immer die Sanierung im Fasanenhof abgeschlossen sein wird – die Wohnungen im ehemaligen Bürgerhospital sind dann wieder frei. Ein Abriss sei nicht geplant, heißt es seitens SWSG, die Wohnungen bleiben also "barrierefrei". Wer auch immer danach einzieht, "der tut mir jetzt schon leid", meint Kreiter.

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