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Tag der Befreiung

Gedenken ohne Widerhall

Tag der Befreiung: Gedenken ohne Widerhall
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Mit etwas Verspätung hat der Landtag in Stuttgart dem 80. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus gedacht. Medial fand das keine Beachtung. Kontext dokumentiert deshalb die Rede von Landtagspräsidentin Muhterem Aras.

Genau 80 Jahre, nachdem der Nationalsozialismus besiegt wurde, die Wehrmacht bedingungslos kapitulierte und der Zweite Weltkrieg endete, gab es in Stuttgart eine große Gedenkveranstaltung, zu der verschiedene Initiativen aus der Zivilgesellschaft eingeladen hatten: Der DGB Stuttgart, die AnStifter, das Netzwerk gegen rechts, die VVN-BdA, der Stadtjugendring, die Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber, IG Metall und Verdi hatten aufgerufen, sich am 8. Mai auf dem Karlsplatz zu versammeln. Auf der Bühne stand unter anderem Petra Olschowski, grüne Landesministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst.

Bis das Gedenken an den 80. Jahrestag der Befreiung zum offiziellen Teil der Landespolitik wurde, dauerte es noch ein paar Tage. Der Landtag hatte dazu am 14. Mai eine Sitzung anberaumt. Vielleicht liegt es daran, dass in der Medienlogik schon als uralt gilt, was eine knappe Woche her ist – jedenfalls macht das Desinteresse von Zeitungen, Radio und Fernsehen einigermaßen fassungslos: Bis auf einen kurzen Bericht im "Staatsanzeiger" fand die Gedenkstunde medial schlicht nicht statt. In einer Zeit, in sich weltweit autoritäre Bündnisse verfestigen, sich viele AfD-Wähler:innen nicht davon abschrecken lassen, dass die Partei rechtsextrem ist und es gerade jetzt unglaublich wichtig scheint, die richtigen Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen.

Kontext dokumentiert daher die Rede der Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne).

"Seien wir Menschen"

Von Muhterem Aras

Vor 80 Jahren, am 8. Mai 1945, endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Um Mitternacht trat die Kapitulation der Wehrmacht in Kraft: Die Schreckensherrschaft der Nationalsozialisten war vorbei. Aber das Trauma, das sie über die Welt und über Deutschland brachten, währte noch lang! Auch als in Deutschland das Sirenengeheul verstummt und der Donner der Bomben verhallt war, ging das Leiden weiter: Durch Plünderungen. Vergewaltigungen. Rache. Und Mord. Etliche KZ-Überlebende starben auch noch Jahrzehnte später an den Folgen der Haft. Zwangsarbeiter irrten umher. Traumatisierte nahmen sich das Leben. Millionen von Deutschen waren Vertriebene, Kriegsgefangene, versehrt oder vermisst.

Es ist wichtig, sich den Abgrund jener Jahre bewusst zu machen: Deutschland hat den verheerendsten Krieg der Geschichte entfacht, mit Millionen von Toten weltweit. Und dieser Krieg hat seit 80 Jahren jedes Leben in diesem Land – bewusst oder unbewusst – geprägt. Er hat sich eingebrannt in unsere Städte, in die Familien, in die Seele ganzer Generationen. Hinzu kam die Schuld, das Leugnen und der ungerechte, jahrzehntelange Kampf um die Aufarbeitung. Wer einen Schlussstrich unter dieses Kapitel deutscher Geschichte fordert, verleugnet die Tragweite, die es bis heute hat!

Der 8. Mai 1945 war einer unserer Schicksalstage. Ein Wendepunkt: von der Tyrannei zur Freiheit. Vom Krieg zum Frieden. Von einer mörderischen Diktatur zur Demokratie. Diese Wende haben wir aber nicht alleine vollbracht. Wir können unendlich dankbar sein für die Befreiung durch die Alliierten. Für das Opfer, das andere Nationen erbracht haben, um die Welt, aber auch die Deutschen vom Faschismus zu befreien. Mit dem Preis von Millionen Toten und zahlreichen in Blut getränkten Biografien haben sie sich zusammengetan, um die Diktatur des NS-Staats zu beenden. Menschen unterschiedlicher Nationen, Religionen und politischer Überzeugungen.  

Gerade in diesen Zeiten, in denen wieder Krieg in Europa tobt, hadern wir mit der Frage, welcher Weg zum Frieden führt. Millionen von Ukrainern litten im Zweiten Weltkrieg unter deutscher Besatzung, hungerten, starben, wurden ermordet. Auch der Ukraine – im Verbund der Sowjetunion – verdanken wir unsere Befreiung vor 80 Jahren. Genauso wie Russland. Heute jedoch pervertiert der russische Diktator die Geschichte, indem er sie verdreht und missbraucht.

Aber – und auch das ist eine Lehre des 8. Mai: Jede Diktatur bricht eines Tages in sich zusammen. Und das Böse ist aufhaltbar, wenn genügend Menschen dagegenstehen. Unsere uneingeschränkte Solidarität gilt daher den Menschen in der Ukraine. Wir Deutsche wissen auch, dass Versöhnung möglich ist. Wir verdanken unsere Gegenwart nicht zuletzt unseren europäischen Nachbarn, die uns die Hand gereicht haben. Die deutsch-französische Freundschaft ist dafür ein Paradebeispiel – und dafür, sehr geehrter Herr Generalkonsul, der aufrichtige Dank des Landtags von Baden-Württemberg! Dass Sie heute hier sind, ist ein starkes Zeichen! Und wir verdanken unsere Gegenwart dem Parlamentarischen Rat, der exakt vier Jahre nach dem Kriegsende das Grundgesetz beschloss.

Unser Grundgesetz, unser gesamtes Werte- und Rechtssystem, lässt sich vollumfänglich erst im Licht und Schatten des 8. Mai begreifen. Wer sich an die gehängten Deserteure und die Kinder an den Flak-Geschützen erinnert, begreift, warum das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ein Grundrecht ist. Wer sich an all die Verfolgung, Vertreibung und Kriegsgräuel erinnert, begreift, warum das Recht auf Asyl ein Grundrecht ist.

Wir begreifen erst angesichts der NS-Zeit wirklich, was Artikel 1 des Grundgesetzes bedeutet: Was es bedeutet, dass sich unser Staat in den Dienst von Freiheit, Gleichheit und Menschenwürde stellt. Wir verstehen im Anblick der Trümmerbilder, warum sich das Deutsche Volk bereits in den ersten Zeilen seiner Verfassung zu einem vereinten Europa und zum Frieden in der Welt bekennt. Wenn wir – wie eben – die Bilder der Zerstörung sehen, wenn wir die albtraumhaften Geschichten der Überlebenden hören, dann grenzt es an ein Wunder, wo wir heute stehen: in einer der freiheitlichsten, friedlichsten und stabilsten Demokratien der Welt! Daraus leitet sich die Verpflichtung ab, dazu beizutragen, dass auch andere Länder genau diesen Weg gehen können. Und die Verpflichtung, unsere Demokratie mit allen Mitteln des Rechtsstaates zu schützen.

Meine Damen und Herren, was die Bundesrepublik heute liebens- und lebenswert macht, liegt begründet in unserer Geschichte: Wir sind das lebende Versprechen, es nie wieder so weit kommen zu lassen. Dazu gehört, jüdisches Leben zu schützen und die Menschenwürde zu achten – ausnahmslos. Dieses Versprechen gilt für alle Deutschen, auch für die jüngeren Generationen. Und ich möchte betonen: Nicht nur, wer hier geboren wurde, sondern auch, wer in Deutschland neue Wurzeln schlägt, macht dieses Kapitel der deutschen Geschichte zu seiner Geschichte und jenes Versprechen zu seinem Versprechen.

"Seid Menschen!" Das war die Botschaft von Margot Friedländer an uns. Vor wenigen Tagen ist sie von uns gegangen, im Alter von 103 Jahren. Mit ihrem leisen Wesen war sie eine der lautesten Stimmen für die Humanität. Und in aller Zierlichkeit von gigantischer Kraft. Margot Friedländers Güte und ihre Bereitschaft zur Versöhnung, nach allem, was die Nazis ihr und ihrer Familie angetan hatten, gehören zu den größten Gesten der Nachkriegszeit. Wir können ihr nicht dankbar genug dafür sein. Ihre Warnung und Enttäuschung aber, dass es damals so angefangen habe wie jetzt, muss uns beschämen, muss uns schütteln, muss uns leiten: Sodass wir umso klarer einstehen für die Mitmenschlichkeit, für Toleranz und für die Erinnerung! Meine Damen und Herren, im Gedenken an die Millionen Opfer des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus – und in Erinnerung an unser Versprechen seither –, bitte ich Sie nun, sich zu erheben. Seien wir Menschen.


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2 Kommentare verfügbar

  • Dr. Jan Georg Plavec
    vor 1 Stunde
    Antworten
    Die Veranstaltung fand ebenso wie zahlreiche andere Aktivitäten zum Jahrestag des Kriegsendes medial sehr wohl auch außerhalb des Staatsanzeigers statt: in Stuttgarter Zeitung und Stuttgarter Nachrichten, Ausgabe 10.5., Seite 21: „Ein Friedensappell, der durch Mark und Bein geht“, Text von meinem…
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