Zu spät ist es schon jetzt. Sollte sich das Land Baden-Württemberg doch noch entschließen, die Opfer der Berufsverbote, die mit dem Radikalenerlass von 1972 zusammenhängen, zu entschädigen, werden viele der Betroffenen nichts mehr davon haben. Etwa Reinhard Gebhardt aus Mannheim. Er starb am 4. Juni vergangenen Jahres im Alter von 74 Jahren. Vier Monate zuvor war er noch Teil einer Gruppe Betroffener, die von Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zu einem Gespräch in der Villa Reitzenstein empfangen wurde. Ein Gespräch, das enttäuschend endete, weil Kretschmann einmal mehr einer Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer von Seiten des Landes eine Absage erteilte. Eine Absage, die nach einem Basta klang (Kontext berichtete).
Der Radikalenerlass
Als Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) sich am 28. Januar 1972 mit den Ministerpräsidenten der Bundesländer zusammensetzte, um "die Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremen Organisationen" zu beraten, entstand ein Beschluss, das als Radikalenerlass in die Geschichte einging. Ins Visier gerieten vor allem Linke, wobei allein die Mitgliedschaft zum Beispiel in der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) oder im Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) genügte, um als Verfassungsfeind verdächtigt zu werden. Vom Postboten bis zum Bahnhofswärter: Wer Beamter werden wollte, wurde durchleuchtet. Von 1972 bis zur endgültigen Abschaffung der sogenannten Regelanfrage, zuletzt 1991 in Bayern, wurden bundesweit insgesamt 3,5 Millionen Personen vom Verfassungsschutz überprüft, Akten über sie angelegt.
Die staatliche Gesinnungsschnüffelei führte zu 11.000 Berufsverbotsverfahren, mehr als 1.250 Bewerber:innen für den öffentlichen Dienst wurden nicht eingestellt, rund 260 Personen entlassen. In Baden-Württemberg, wo die Regelanfrage besonders streng angewandt wurde und es mit dem "Schiess-Erlass" von 1973 (benannt nach dem damaligen Innenminister Karl Schiess) sogar noch einen verschärften Erlass gab, sind allein 222 Nichteinstellungen und 66 Entlassungen dokumentiert – wobei die Dunkelziffer sehr hoch sein soll. Die Betroffenen mussten sich mit anderen Jobs durchschlagen, leben heute teils in prekären Verhältnissen oder zumindest mit einer deutlich geringeren Rente, als sie eigentlich hätten haben können. Brandt räumte schon 1988 ein, dass der Erlass ein Fehler gewesen sei, er habe nicht geahnt, "welcher Unfug damit getrieben werden würde". (sus/os)
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