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Studie zu Berufsverboten

Warten auf Godot

Studie zu Berufsverboten: Warten auf Godot
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Im Mai wurde eine wissenschaftliche Studie über den Radikalenerlasses von 1972 veröffentlicht. Diese sollte eigentlich als Grundlage dienen, sich mit der Rehabilitierung der Betroffenen zu befassen. Doch die warten immer noch auf eine Reaktion.

Der Radikalenerlass von 1972 hatte dazu geführt, "dass die Lebensentwürfe von vor allem jungen Menschen zerstört und Existenzen gefährdet wurden". Weniger dazu, "dass radikale Kräfte vom öffentlichen Dienst ausgeschlossen" wurden. Das schreibt Theresia Bauer (Grüne), frühere Wissenschaftsministerin Baden-Württembergs, in ihrem Vorwort zur Studie "Verfassungsfeinde im Land?", die am 25. Mai dieses Jahres erschien. In Auftrag gegeben wurde der im Rahmen eines Forschungsprojekts der Uni Heidelberg entstandene Band ausdrücklich mit dem Ziel, als Grundlage für einen Umgang mit den Betroffenen zu dienen – für eine mögliche Rehabilitation und Entschädigung. Seit der Veröffentlichung vor sieben Monaten passiert ist von Seiten des Landes: nichts.

Zu den Menschen, deren Lebensentwürfe zerstört wurden, gehört auch Lothar Letsche. Der gebürtige Tübinger hatte 1977 sein Studium der Anglistik und Geschichte beendet, doch wegen bereits beendeter Mitgliedschaft bei der DKP, beim Marxistischen Studentenbund MSB Spartakus sowie der Verantwortung für diverse Flugblätter lehnte das Oberschulamt im August 1977 seine Zulassung für ein Referendariat ab. Letsche klagte durch zwei Instanzen: erfolglos.

Ausgabe 604, 26.10.2022

Land wertet immer noch aus

Von Oliver Stenzel

Seit Mai gibt es eine Studie, die den Radikalenerlass von 1972 in Baden-Württemberg untersucht. Ministerpräsident Kretschmann wollte sie zur Grundlage nehmen, um sich endlich mit der Rehabilitierung von Betroffenen zu befassen. Doch bis heute ist nichts zu hören.

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2012 gehörte Letsche zu den Mitbegründern der Initiative "40 Jahre Radikalenerlass" und betreibt die Webseite berufsverbote.de. Er gehörte auch zu denen, die sich gewisse Hoffnungen machten, als 2011 der einst selbst vom Berufsverbot betroffene Winfried Kretschmann an der Spitze einer grün-roten Regierung Ministerpräsident wurde. Bei einer Versammlung der Bildungsgewerkschaft GEW im April 2012 überreichte er Kretschmann ein Stofftier der "Anti-Duckmaus", Maskottchen der Initiative "40 Jahre Radikalenerlass".

Trotzdem scheint es, als ducke sich Kretschmann weiterhin. Auf Rückfragen zur Studie reagierte er zunehmend genervt und verwies auf drängendere Probleme – und höchstens noch darauf, dass es keine generelle Rehabilitierung geben könne, sondern einzelne Fälle geprüft werden müssten.

Gegenüber Kontext betont Letsche, dass sich die Betroffenen, die Gewerkschaften und auch viele Politiker:innen einig seien, "dass es vor allem an Ministerpräsident Kretschmann liegt, dass die bestellte Heidelberger Studie … folgenlos bleibt und kaum diskutiert wird". Er sieht zum einen "eine ‚biografische‘ Seite: Herr Kretschmann verwechselt seine ganz persönliche Aufarbeitung seiner eigenen KBW-Vergangenheit mit seiner Aufgabe als Amtsnachfolger – unter anderem – von Hans Filbinger". Zum anderen eine politische Seite: Im Bundesland Brandenburg soll die "Regelanfrage" per Gesetz wieder eingeführt werden, und "ich schließe nicht aus, dass solche Optionen auch für Baden-Württemberg offengehalten werden sollen", so Letsche. Auch Kretschmanns Absage an eine pauschale Rehabilitierung hält er für verfehlt: Der Ministerpräsident blende aus, dass die nur auf "Prognosen" basierende Diskriminierung des Radikalenerlasses gegen internationale Kernnormen des Arbeitsrecht verstoße.

Bereits im November antwortete Theresa Hierlinger, Referentin von Wissenschaftsministerin Petra Olschowskis (Grüne), auf Kontext-Anfrage: "Dass der Staat hier in vielen Fällen eine Überreaktion gezeigt hat, führt der Heidelberger Sammelband ja ganz eindrucksvoll vor Augen." Olschowski begrüße, dass die politische Diskussion durch die Studie und journalistische Arbeiten angestoßen worden sei, und auf Grundlage der Studie könnten nun "weitere Schritte in Erwägung gezogen werden", so Hierlinger – mit der Einschränkung: "Dies obliegt jedoch nicht der Zuständigkeit des Wissenschaftsministeriums."

Auf eine erneute Kontext-Anfrage beim baden-württembergischen Staatsministerium, ob irgendwelche Schritte in Erwägung gezogen werden, gab es bis Redaktionsschluss keine Antwort.


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1 Kommentar verfügbar

  • Thomas Rothschild
    am 28.12.2022
    Antworten
    Liebe Petra Olschowski,
    Sie haben in Ihrer beispiellosen Karriere alle Ziele erreicht, die Sie sich gesteckt haben. Sie werden, über kurz oder lang, auch Ministerpräsidentin von Baden-Württemberg werden. Sie können sich, wie die Dinge stehen, Gehör verschaffen, und es gibt nichts in Ihrer…
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