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Jugend im Ehrenamt

Weltverbessern im Kleinen

Jugend im Ehrenamt: Weltverbessern im Kleinen
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Wer ein Ehrenamt übernimmt, bedarf einer ordentlichen Portion Zeit sowie Selbstlosigkeit. Vom Sporttraining über den Sanitätsdienst bis zum Umweltschutz: Junge Menschen berichten über ihr freiwilliges Engagement, Teil II.

Freitagabend, kurz vor fünf. Im leuchtend roten T-Shirt steht Walter Kurrle in der Sporthalle Zentrum Zell in Esslingen. Noch ist es ruhig hier, das wird sich jedoch ändern, wenn ab 17 Uhr nach und nach aufgeregte Grundschuljungs eintrudeln. Der 21-jährige Kurrle, von Beruf Feinwerkmechaniker, ist Mitglied der Jugendleitung beim TVZ (Turnverein Zell). Jeden Freitag leitet er ehrenamtlich das Kinderturnen – zuerst mit Jungs im Grundschulalter, anschließend mit den Größeren ab der Mittelschule. "Eigentlich sind wir immer drei Trainer. Einer ist gerade auf Klassenfahrt in Berlin", berichtet Kurrle.

Als junger Ehrenamtlicher ist er überzeugt: "Das Ehrenamt müsste aufgefrischt werden, vor allem durch mehr junge Menschen. Doch die meisten wollen lieber Party machen, reisen oder einfach für sich selbst bleiben." Er selbst habe nur selten das Gefühl, etwas zu verpassen: "Bei mir geht das Ehrenamt vor, auch wenn ich dafür mal auf eine Party verzichten muss. Am nächsten Tag hört man dann eh meistens, dass es nicht so cool war." Und den Kater erspare man sich natürlich auch.

Kurrle war bereits als kleines Kind beim Turnverein und wollte seither nicht mehr damit aufhören. Zudem könne er das Ehrenamt gut mit seiner Leidenschaft für den Sport kombinieren und sich dabei selbst körperlich auspowern. "In meiner Freizeit betreibe ich verschiedene Sportarten, dazu zählen etwa Klettern, Bouldern oder Mountainboarding. Auch beim Verein leite ich zusätzlich zum Kinderturnen das Parkour-Training", sagt der breitschultrige Mann.

Noch während er erzählt, stecken die ersten Kinder ihre Köpfe zur Tür herein. Die Aufregung ist groß: zwei unbekannte Gesichter in der Halle. "Walter, Walter, wer sind diese Leute?" "Was machen die da?" Neugierige Blicke fallen auf das Kontext-Team, während Kurrle von allen Seiten belagert wird. Was er heute mit den Kindern vorhat, weiß der 21-Jährige noch nicht: "Das mache ich meistens spontan, irgendwas fällt mir immer ein." Das Ehrenamt ist für ihn ein Hobby, die Arbeit mit den Kindern macht ihm Spaß. Das scheint auf Gegenseitigkeit zu beruhen. Ein kleiner Junge im militärgrünen T-Shirt und farblich passender Trainingshose springt durch die Turnhalle. Er kann sich kaum halten vor Vorfreude: "Walter, machen wir heute wieder das mit den Bällen?"

Aller guten Dinge sind drei

Bevor die Gaudi losgeht, heißt es Geduld beweisen. Widerwillig setzen sich die unter Strom stehenden Jungs auf die Holzbank und blicken erwartungsvoll zu ihrem Trainer: Zwei Teams sollen gebildet werden. Kurrle wählt die zwei Glücklichen, die sich abwechselnd ihre Mannschaftskollegen aussuchen. Eine Runde Schere, Stein, Papier bestimmt, wer damit beginnen darf. Jetzt sind alle völlig aus dem Häuschen, strecken die Arme weit in die Höhe und rufen übermütig: "Nimm mich, nimm mich!" Da braucht es gute Nerven, doch Kurrle bleibt locker. "Ihr könntet gerne öfter kommen, so gut wie heute benehmen sie sich selten", witzelt der 21-Jährige Richtung Kontext-Team.

Eine ordentliche Portion Ruhe und Überblick braucht auch Tony von Pfuhlstein bei seinen Ehrenämtern. Er ist gleich dreifach engagiert: Der 17-jährige Schüler leistet bereits seit 2017 Bereitschaftsdienst beim Roten Kreuz, wo er mittlerweile Gruppenleiter der Jugendorganisation im Kreisverband Stuttgart ist, sitzt im Orga-Team von Fridays for Future und engagiert sich seit letztem Jahr auch noch ehrenamtlich für die Demo-Sanitäter:innen. Letztere wurden bereits 1997 in Ludwigsburg im Zuge der Demonstrationen gegen die Atommülltransporte vom AKW Neckarwestheim nach Gorleben gegründet. "Wir leisten unentgeltlichen Sanitätsdienst bei Demonstrationen und Kundgebungen", erklärt der junge Demo-Sani. Über die Jahre wuchs die Gruppe, verbesserte ihre Ausrüstung und erweiterte ihre Einsatzbereiche von klassischen Demonstrationen über Kulturveranstaltungen bis hin zu Protestcamps. Neben der Sanitätsgruppe Süd-West, bei der sich Tony von Pfuhlstein engagiert, gibt es seit 2021 eine zweite regionale Demo-Sanitätergruppe in Karlsruhe.

In der Taubenheimstraße in Bad Cannstatt steht von Pfuhlstein vor einem unscheinbaren Haus. Über eine Treppe führt er hinunter in den Keller und schließt dort eine in die Jahre gekommene Tür auf: "Willkommen im Raum der Demo-Sanis." Das ist unverkennbar: silberne Kisten gestapelt auf Regalen, darunter die Rucksäcke im symbolträchtigen Sanitäterrot, an der Wand eine anatomische Zeichnung des menschlichen Körpers. "Das Ehrenamt der Demo-Sanis ist wichtig, um das Demonstrationsrecht zu erhalten", erklärt der junge Engagierte. Denn: "Viele Veranstalter können sich entgeltliche Sanitäter nicht leisten."

"Beim Klimacamp im letzten Jahr bin ich mit den Demo-Sanitäter:innen ins Gespräch gekommen und seitdem ein Teil davon", erzählt er. Der 17-Jährige mit grün gefärbtem Undercut ist Ehrenamtlicher mit Leib und Seele. Voller Stolz führt er die Ausrüstung der Demo-Sanis vor. "Wir tragen bei unseren Einsätzen zwischen 15 und 30 Kilo auf dem Rücken", erklärt er und deutet auf die sorgfältig nach Größe geordneten Rucksäcke, "darin befindet sich alles, was wir für die medizinische Versorgung benötigen: Dazu gehören auch Tampons, Riegel oder eine Augenspülung, wenn Pfefferspray zum Einsatz kommt."

Beim Stichwort Pfefferspray erinnert sich von Pfuhlstein: "Bei einer meiner ersten Demos als Sanitäter wurde von der Polizei eine riesige Menge an Pfefferspray gegen die Demonstrant:innen eingesetzt. In solchen Situationen ist unser Job nicht ungefährlich, schließlich muss man auch auf die eigene Sicherheit achten." Wenn der 17-Jährige nicht gerade als Sanitäter bei Demonstrationen unterwegs ist, dann als Fotograf im Auftrag von Fridays for Future.

Lernen, Nein zu sagen

Mit Fridays for Future hat auch Flora Dirr einiges am Hut. Die 21-jährige Studentin für Erziehungswissenschaften und soziale Arbeit an der Uni Tübingen sitzt als Landesjugendsprecherin im Vorstand der BUND-Jugend Baden-Württemberg, dem Jugendgremium des Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland, "wo mit die wichtigsten Entscheidungen getroffen werden", sagt sie. Bei den Treffen alle zwei Wochen geht es in erster Linie um Organisatorisches, um Personalfragen und um inhaltliche Themen. "Erst vor Kurzem wurden wir von Fridays for Future angefragt, ob wir eine ihrer Stellungnahmen mitunterzeichnen wollen. Solche Dinge werden innerhalb des Landesvorstandes beschlossen", erklärt Dirr.

Bei ihrem freiwilligen Jahr in einem Jugendzentrum in Estland hat sie beim Organisieren einer Umweltschutzwoche Gefallen am Einsatz für Umwelt und Klima gefunden. Zurück in Deutschland habe sie schließlich über einen Freund vom BUND erfahren. "Meine größte Motivation ist der Zustand der Welt. Ich möchte etwas verändern, auch wenn es nur im kleinen Rahmen ist," sagt die junge Ehrenamtliche. Aus eben diesem Grund investiere sie einen großen Teil ihrer Freizeit in ihr freiwilliges Engagement: "Mein Ehrenamt nimmt viel Raum ein, auch was die mentale Auslastung betrifft: Häufig sitze ich in Uni-Seminaren und denke darüber nach, was ich eigentlich noch für die BUND-Jugend organisieren müsste."

In einer Sache geht es laut ihr allen Ehrenamtlichen gleich: "Man lernt erst mit der Zeit, auch mal Nein zu sagen." Sie selbst hat bis vor einem Jahr noch ein zweites Fach studiert, das habe jedoch zeittechnisch nicht funktioniert.

Auch Demo-Sanitäter Tony von Pfuhlstein fällt es oft schwer, alles unter einen Hut zu bekommen. "Dann kann ab und zu schon passieren, dass ich für die Schule mal ein bisschen zu wenig mache", schmunzelt der junge Ehrenamtliche. Deswegen könne er gut verstehen, wenn sich junge Menschen gegen ein Ehrenamt entscheiden. Umweltschützerin Flora Dirr meint hingegen: "Bei unserem Thema Umweltschutz kann es nie genug Engagierte geben. Derzeit wird nicht genug dafür getan, deshalb müssten sich mehr Menschen engagieren, vor allem auch junge, die es am meisten betrifft. Dann würde auch in der Politik mehr passieren."

"So was wie ein Familiengefühl"

Kinderturntrainer Walter Kurrle hat bereits Ideen, wie das Ehrenamt besser gefördert werden könnte: "Zum Beispiel sollten Fitnessstudios Ermäßigungen für freiwillig Engagierte anbieten." Im Kinderbereich des TVZ gab es seit August 65 neue Anmeldungen. Die Nachfrage ist da, oftmals fehlen aber die Trainer. "Früher war jeder in irgendeinem Verein. Heutzutage nimmt das Ehrenamt ab, weil die Städte immer größer werden und die Gesellschaft sich auseinanderlebt", bedauert Kurrle.

Ausgabe 606 vom 9.11.2022

Weil's Spaß macht

Von Franziska Mayr

Ob Feuerwehr, Schwimmverein oder Gewerkschaft: Was als selbstverständlich vorausgesetzt wird, gibt es nur, weil sich so viele freiwillig dafür engagieren. Drei junge Menschen erzählen vom Ehrenamt.

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Beim Ehrenamt geht es hingegen ums Zusammenkommen und Zusammenwachsen. "Es ist schön, aus der eigenen Bubble herauszutreten. Ich habe dadurch Freundschaften mit Menschen aus anderen Orten geschlossen, denen ich sonst wahrscheinlich nie begegnet wäre", meint der junge Sporttrainer, "Im Verein kommt so was wie ein Familiengefühl hoch." Auch der Demo-Sanitäter erzählt von Freundschaften, die sich dank seines freiwilligen Engagements ergeben haben. Flora Dirr schätzt insbesondere die Bund-Jugend-Treffen, denn dort "lernt man gleichgesinnte Menschen kennen". Und: "Es fühlt sich gut an, wenn man merkt, dass es Leute gibt, die für eine gemeinsame Sache kämpfen und die alle die Welt ein bisschen verbessern wollen."

Schlussendlich engagieren sie sich wohl alle aus diesem einen Grund: um die Welt zu verbessern. In der Turnhalle in Zell haben sich mittlerweile zwei motivierte Teams gebildet. Zur Freude des kleinen Jungen im militärgrünen Sportanzug holt Walter Kurrle den roten Schaumstoffball und ruft: "Eine Runde Völkerball." Euphorisches Jubeln unter den Kleinen. Für einen kurzen Moment scheint die Welt tatsächlich in Ordnung zu sein.


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2 Kommentare verfügbar

  • Werner Buck
    am 25.11.2022
    Antworten
    Deutschlandweit sollten alle Ehrenamtlichen 1 Woche streiken, die Auswirkungen eines Generalstreiks wären ein Klacks dagegen. Unsere Damen und Herren in der Politik würden ganz dumm aus der Wäsche schauen, denn dann würden sie mit ihren Schönwetterreden schön im Regen stehen.
    Als Flinten-Uschi…
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