KONTEXT:Wochenzeitung
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Schauen, was bleibt und wird

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Manchmal träumen wir von einem Jahr, das da liegt wie ein spiegelglatter See. Auch 2019 war wieder keines. Der Rechtsruck in der Gesellschaft ist unverkennbar, dagegen anzuschreiben, dringend notwendig. Aber es gibt auch die Jungen von Fridays for Future oder das nackte Einhorn in Schwäbisch Gmünd.

Die tollsten Geschichten schreibt das Leben selbst. Vor allem das prüde. Das beweist der hysterische Einhorn-Alarm in Schorndorf. Sex-Skandal auf der Remstal-Gartenschau? Naja, nicht wirklich. Aber für viele Blümles-Liebhaber war das nackte Einhorn, Wappentier der Stadt Schwäbisch Gmünd, zu viel der Haut. Dass sich unter Body-Painting und Einhorn-Maske auch noch eine echte linke Stadträtin befand, brachte manche an den Rand der Ohnmacht. Wunderbar aufgeschrieben hat das unsere Autorin Elena Wolf in ihrer meinungsstarken Glosse. Ja, man konnte neben Feinstaub, Dieselschurkerei und rechten Attacken auch noch kichern im vergangenen Jahr.

Die Linke in Schwäbisch Gmünd lag übrigens bei der Kommunalwahl am 26. Mai mit 9,9 Prozent der Stimmen vier Prozentpunkte über ihrem Ergebnis von 2014. Womöglich war’s der Einhorn-Effekt, was die Partei allerdings empört von sich weist. Ganz ohne Frauen hingegen schritt man in Boxberg zur Kommunalwahl. Der dortige Gemeinderat war und bleibt frauenfrei. Und trägt so mit dazu bei, dass Baden-Württemberg bundesweit Schlusslicht bleibt bei der politischen Teilhabe von Frauen. Und in Burladingen, bekannt durch Trigema-Grupp und den ersten AfD-Bürgermeister im Land, (Kontext berichtete) konnte die AfD gleich wieder vier Sitze im Gemeinderat besetzen. Insgesamt sind es 120 Sitze in baden-württembergischen Kommunalparlamenten.

Unabhängigkeit in der Autostadt – ein hohes Gut

Alle reden vom Wetter, völlig zu recht. Die Jugendlichen von Fridays for Future haben das angestoßen. Sie haben eine globale soziale Bewegung initiiert, angetrieben von der Idee eines nachhaltigen Wirtschaftens und eines anderen, besseren Lebens. Im März waren die Stuttgarter Aktivisten zum Gespräch mit Stefan Siller in der Kontext-Redaktion. Wir haben beim Internationalen Klimastreiktag im September den Laden dicht- und mitgemacht beim Sternmarsch in Stuttgart – und uns immer an den Geschichten unseres Autors Dietrich Heißenbüttel erfreut, der sich mit Vorliebe um Verkehr, Auto und Folgelasten kümmert. In völliger Unabhängigkeit im Übrigen, was in der Stadt von Daimler und Porsche ein hohes Gut ist.

Der Klimanotstand hat viele Facetten. Der Protest von "Ende Gelände" etwa gehört dazu, der Protest gegen Kohleabbau  oder die Besetzung von Kohlekraftwerken wie in Karlsruhe, worüber Kontext-Redakteur Minh Schredle und Fotograf Jens Volle berichteten. Einige der Geschichten haben wir in dieser Ausgabe weiter geschrieben. Wir schauen nicht nur hin, wenn das alle tun. Wir schauen auch darauf, wenn die Stichflamme der Aufregung erloschen ist. Und fragen nach, was geworden ist:  Aus dem Balinger Hausberg etwa, der von einem Baustoffkonzern abgekratzt wird oder aus der Sparorgie im Pressehaus, wo immer weniger JournalistInnen für immer mehr "Content" sorgen sollen. So heißt heutzutage,  was früher Journalismus war.  Und natürlich haben wir auch Wolfgang Dietrich, den S-21-Sprecher und VfB-Präsidenten, nicht aus dem Auge verloren. Wo er doch ein journalistischer Glücksfall war, an dem sich unser Autor Christian Prechtl erfreuen konnte. Bis zu Dietrichs Abgang. 

Das Thema Stuttgart 21 ist nicht tot

Und noch ein paar Superlative aus dem Rückspiegel: Die meisten Kommentare (46) gab’s zum zehnjährigen Jubiläum der Montagsdemo im Theaterhaus von Josef-Otto Freudenreich und Oliver Stenzel.  Da wurde wieder einmal deutlich, dass Stuttgart 21 kein totes Thema ist, sondern aktuell wie eh und je.  Ein großer Aufreger  war  auch  – Überraschung  -  die Waldorfschule, sprich ihr 100. Geburtstag. Der Artikel von Jürgen Lessat "Und sie tanzen die Waldorfmania" zeitigte 37 zum Teil erboste Kommentare. "Schade für das Papier und die Druckerschwärze bzw. die Zeit, so ein Gebräu online zu lesen!", lautete einer davon. 

Bei den am besten gelesenen Geschichten des Jahres ganz vorne ist Arno Luiks "Farce auf Schienen", ein Kapitel aus seinem Buch "Schaden in der Oberleitung" über die Deutsche Bahn. Und noch ein Bahnexperte, unser Autor Winfried Wolf, hat sein Wissen zwischen zwei Buchdeckel gepackt: "Abgefahren. Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen". Beide greifen für  Kontext immer wieder in die Tasten und werden das auch im neuen Jahr tun.  

Getoppt wurde die Bahngeschichte nur von Anna Hungers  Artikel "Sieg Heil mit Smiley". Der Text, der rassistische und antisemitische Chats eines Mitarbeiters der AfD-Landtagsabgeordneten Christina Baum und Heiner Merz enthüllt. Eines Mitarbeiters, der uns nun seit eineinhalb Jahren juristisch bekämpft. Die Kontext-Redakteurin Anna Hunger war nominiert für den renommierten Theodor-Wolff-Preis. Über diese Anerkennung hat sich die ganze Redaktion gefreut. Doch Marcel Grauf, Mitarbeiter eben dieser AfD-Landtagsabgeordneten, will diesen Artikel zum Verschwinden bringen via Prozesskeule. Schön, dass sich so viele darüber informiert haben. Dieses Interesse und die überwältigende finanzielle Unterstützung so vieler hat uns darin bestärkt, uns nicht einschüchtern zu lassen.

Zeit, nicht nur in den Rückspiegel, sondern nach vorne zu schauen, auf die beginnenden 20er Jahre. Wir werden auch im kommenden Jahr weiter nach den Rechten sehen. Am 23. März planen wir eine Veranstaltung im Theaterhaus mit "Monitor"-Chef Georg Restle und "Panorama"-Moderatorin Anja Reschke. Beide machen sich stark für einen Journalismus mit Haltung und waren selbst schon Opfer rechtsradikaler Hetze. Wie sieht ein Journalismus mit Haltung aus? Wie können JournalistInnen den Drohungen entgegentreten? Das beschäftigt auch uns,  denn am 26. Mai heißt es wieder: Grauf gegen Kontext, diesmal vor dem Landgericht Frankfurt.

Eine kritische Zivilgesellschaft ist wichtiger denn je

Gerade jetzt, in einer Zeit, in der die Rechten gegen unliebsame Journalisten in Demos vorgehen wie in Hannover, sie mit Prozessen überziehen, in der Politiker bedroht und getötet werden und Hass und Hetze regieren, gilt es, noch genauer hinzusehen. Und sich zu engagieren. Auch und gerade ehrenamtlich. Da ist es nicht hinnehmbar, dass zivilgesellschaftliches Engagement mit der Aberkennung der Gemeinnützigkeit bestraft wird. Davon ist nicht nur, als absurdestes Beispiel, der VVN, die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, betroffen. Im Oktober traf es auch das "Demokratische Zentrum" (DemoZ) in Ludwigsburg, dem Finanzamt waren die kapitalismuskritischen Veranstaltungen wohl zu links.

Doch gerade heute brauchen wir mehr denn je eine kritische und gemeinwohlorientiert Zivilgesellschaft.

Das gilt auch für den Journalismus. Seit November ist Kontext Gründungsmitglied im Forum gemeinnütziger Journalismus. Ziel ist es, den nicht kommerziellen Journalismus in Deutschland zu stärken. Wo es darum geht, die Kritik- und Kontrollfunktion des Journalismus zu stärken, sind wir gerne dabei. Und in guter Gesellschaft: Medienprojekte wie netzpolitik.org, Correctiv, Netzwerk Recherche sowie die Rudolf-Augstein-Stiftung und die Schöpflin-Stiftung gehören dazu. 

Und selbstverständlich passen wir auch auf, wenn Stuttgarts OB Fritz Kuhn aufhört, die Blütenblätter zu zählen – kandidier ich oder kandidier ich nicht? Wenn sich die  CDU für die Landtagswahl 2021 warm läuft, wie es unsere landespolitische Autorin Johanna Henkel-Waidhofer schon jetzt, wie so vieles, vorausahnend beschreibt. Wenn sich der Schwarze Donnerstag und die Geißlersche Schlichtung zum zehnten Mal jähren. Wird wohl wieder nix mit einem ruhigen 2020.


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