Bis zu 200 000 Menschen sahen der Parade zu, die sich am 27. Juli in Stuttgart unter dem Motto "Mut zur Freiheit" für Vielfalt, Gleichberechtigung, Akzeptanz und sexuelle Selbstbestimmung einsetzte. Vier Teilnehmer des Christopher Street Day (CSD) wollten anschließend noch einen Club im Leonhardsviertel besuchen, sie trugen Regenbogensocken und Tanktops. "Schwul oder was?", rief ihnen eine Gruppe von Unbekannten hinterher – worauf die vier Homosexuellen im Vorbeigehen mit "Ja, na und?" antworteten. Dann bekam einer von ihnen einen Schlag gegen den Kopf. Die Folge: eine aufgeplatzte Lippe und Schmerzen im Kiefer. Noch in derselben Nacht wurde ein weiterer Homosexueller in Stuttgart angepöbelt und geohrfeigt. Und schon am folgenden Nachmittag kam es zum nächsten Vorfall: Ein Besucher der CSD-Hocketse, eines zweitägigen Straßenfests, wurde am Rand des Festgeländes von einem Passanten zunächst als "Schwuchtel" beleidigt, dann wurde ihm ins Gesicht geschlagen und der Arm umgedreht.
Um sich mit den Menschen zu solidarisieren, die zum Ziel homophober und queerfeindlicher Gewalt wurden und werden, versammelten sich am vergangenen Freitag rund 200 Personen unter dem Titel "Stoppt den Hass!" auf dem Stuttgarter Marienplatz. Unterstützt wurde das auch durch Redebeiträge vom Landesvorsitzenden der baden-württembergischen Grünen Oliver Hildebrand und von der linken Kommunalpolitikerin Laura Halding-Hoppenheit. Die Organisatoren der Kundgebung beschrieben die Angriffe als eine neue Stufe der Gewalt. Auch in der Vergangenheit habe es zwar immer wieder Pöbeleien gegen CSD-Teilnehmer gegeben, so Bettina Schreck vom "Projekt 100 % Mensch". Körperliche Angriffe dieser Art seien auf dem Festgelände in Stuttgart aber bislang noch nicht vorgekommen.
Das "Projekt 100 % Mensch" setzt sich seit 2014 für konsequente Gleichberechtigung unabhängig von Geschlecht und sexueller Orientierung ein, sie organisieren Informationskampagnen und bieten Beratung für nicht-binäre, trans* und intergeschlechtliche Menschen an. Schreck, stellvertretende Geschäftsführerin des Projekts, meint: "Viele aus der Community sind mittlerweile abgestumpft, weil sie so oft auf der Straße oder im Bahnhof beschimpft werden." Sie rät den Betroffenen trotzdem, jeden Fall zur Anzeige zu bringen – auch um die Dimensionen queerfeindlicher Übergriffe deutlich zu machen. Das genaue Ausmaß der Gewalt gegen LSBTTIQ* (lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, intersexuelle, und queere Menschen) ist unbekannt, weil nur die wenigsten Vorfälle zur Anzeige gebracht werden. Schätzungen gehen davon aus, dass die Dunkelziffer bei über 90 Prozent liegt. Auch die eingangs geschilderten Vorfälle beim Stuttgarter CSD sind der Polizei nicht alle gemeldet worden. Zu dem Angriff im Leonhardsviertel konnte laut Polizeipräsidium Stuttgart noch kein Tatverdächtiger ermittelt werden. Schreck meint: "Nur wenn die Vorfälle konsequent in der polizeilichen Statistik landen, wird sich politisch was bewegen." Wer sich im Umgang mit der Polizei unsicher fühle, könne einen Freund oder eine Freundin mitnehmen.
Dicke Bretter bleiben
Der CSD stand dieses Jahr im Zeichen der Erinnerung an 50 Jahre Stonewall-Aufstand und an 40 Jahre "Homobefreiungstag". Der Stonewall-Aufstand von Schwulen, trans* Personen, Butches und Drags, die sich in der Nacht vom 27. auf den 28. Juni 1969 erstmals gegen die Polizeigewalt in New York wehrten, gilt heute als symbolischer Beginn der weltweiten LSBTTIQ*-Bewegung. Zehn Jahre später riefen Aktivisten auf dem Stuttgarter Schlossplatz den "Homobefreiungstag" aus. Beide Jubiläen haben die vergangenen Wochen für die Organisatoren zu etwas Besonderem gemacht, meint Christoph Michl, der Geschäftsführer des Vereins IG CSD Stuttgart. Er nimmt aber auch wahr, dass rechte Akteure mit Gewalt versuchen, die Bewegung zurückzudrängen und Angehörige der Community unsichtbar zu machen.
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