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Ende der Gemütlichkeit

Ende der Gemütlichkeit
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In Bayern wird gewählt, und nichts ist mehr, wie es früher war. Die CSU liegt bei 33 statt zuletzt 47 Prozent und die Menschen fragen sich, was einem das schönste München nutzt, wenn man sich keine Wohnung leisten kann.

Wenn es im bayerischen und speziell im Münchner Volkskörper zwickt und zwackt, weiß zuverlässig ein Mann Bescheid, warum das so ist. Seit 20 Jahren studiert und therapiert Heilpraktiker Bernd Michel seine Landsleute mit ihren kleinen und größeren Wehwehchen. Michel, in seiner Jugend mehrfacher deutscher Judo-Meister im Schwergewicht, also ein Baum von einem Mannsbild und mit einem Faible für das Fernöstliche ausgestattet, residiert mit seiner Praxis in allerbester Lage, im Herzen von München, direkt am Odeonsplatz. Mit Nadeln und Kräutern aus der Traditionellen Chinesischen Medizin lindert er die Beschwerden seiner Patienten. Doch gegen die zunehmend grassierenden Nöte der Großstadtbewohner hat auch der Heiler kein Kraut in petto. Der Befund lautet: Der Homo monacensis leidet an seinem München.

Dass Körper und Seele eine Einheit bilden, gilt als altbekannte Binse, doch gerade in der bayerischen Millionenmetropole, der vielbesungenen Hauptstadt der Gemütlichkeit, schlägt dem gemeinen Einwohner zunehmend der Stress aufs Gemüt und die Organe. Explodierende Mieten, übervolle U- und S-Bahnen, frustrierende Suche nach einem Kita-Platz – die Liste ließe sich leicht fortsetzen. Dass der Preis für eine Maß Wiesnbier heuer eine neue Rekordmarke erklommen hat, juckt in diesem Zusammenhang schon gar nicht mehr. Vor allem die Wohnungsnot macht den Einwohnern und denen, die Einwohner werden wollen, zu schaffen. "Das wirtschaftliche Wachstum der letzten Jahre hat zu der scheinbar paradoxen Situation geführt, dass viele Menschen bei dieser Entwicklung finanziell nicht mehr mithalten können. Aber wer will sich das schon eingestehen? Also machen die Menschen sich und den anderen ständig etwas vor. Das gelingt aber nicht und irgendwann revoltiert der Körper", analysiert Michel. Man könnte auch sagen: Boom produziert Burn-out. Ob dieses Gefühl des Zu-kurz-gekommen-Seins auch die Erfolge von politischen Rattenfängern von Rechtsaußen erklärt? Diese These ist dem Heilpraktiker etwas zu unterkomplex, aber bevor die Leute einen Schmarrn wählen, sollen sie mit ihren Beschwerden halt vorher lieber in die Praxis am Odeonsplatz kommen.

Draußen vor der Stadt, in der Gemeinde mit dem schönen Namen Dingharting, an einem Spätsommer-Samstag. Der Himmel trägt weiß und blau. Die gesamte Landschaft "hier heraußen" hat durchaus etwas geradezu unwirklich Bilderbuchartiges. Grasende Kühe, schmucke Bauernhöfe, Dorf mit Weiher und Kirche mit Zwiebelturm. Wie aus einem Werbespot der Tourismusindustrie. Nur, dass in den Ortschaften südlich von München an jeder zweiten Straßenlaterne ein Plakat der AfD hängt, trübt das Bild ein wenig. Heilpraktiker Michel hat zu einem Grillfest in seinen Garten eingeladen. Das gute Dutzend Gäste kommt ganz überwiegend aus München, und bei Augustiner-Bier, Schweinswürstel und Spareribs dreht sich das Gespräch bald nur noch um ein Thema. "Wo wohnst du und wieviel bezahlst du?" Wer nicht so viel Glück hat wie die Susi aus Solln, der die Eltern das schmucke Reihenhäuserl überlassen haben, muss auch als gutverdienender Akademiker locker das halbe Einkommen für eine 120-Quadratmeter-Wohnung ausgeben.

Strauß geht immer

Ein Anwalt erzählt beim Wenden seines Rumpsteaks, dass in der aktuellen Ausgabe von Focus-Money, das nicht als antikapitalistisches Kampfblatt gegen Immobilienwucher bekannt sei, der Chefredakteur im Editorial vorrechnet, dass man als Normalverdiener eine heute erworbene Null-acht-15-Immobilie in München 70 (siebzig!) Jahre lang abbezahlt. "Ja, ist des nicht ein Wahnsinn?", entfährt es dem grillierenden Anwalt. Dabei handelt es sich bei dem ganzen Immobilien-Irrsinn um kein neues Phänomen. Schon die legendären "Münchner Geschichten", die Fernsehserie von Helmut Dietl mit seinem Protagonisten Tscharlie Häusler aus den 70er-Jahren, erzählen von der Gentrifizierung eines Münchner Stadtviertels durch Wohnungsspekulanten. Das Schicksal des Tscharlie scheint sich zu wiederholen. Der liebenswerte Strizzi aus dem Stadtviertel Lehel lebte auch noch mit 30 Jahren bei seiner Oma in der Altbauwohnung. Die Tscharlies von heute sind gut ausgebildete Männer und Frauen, die nach dem Studium mit ihrem Anhang wieder bei den Eltern in den Vorstädten einziehen, weil sie sich von ihren Gehältern keine eigene Bleibe leisten können.

Zurück am Odeonsplatz, schräg gegenüber von der Michelschen Praxis, in der Pfälzer Weinstube sitzen die Herrschaften, die ihr Reiheneckhaus im Zweifel schon vor rund 20 Jahren abbezahlt haben. Die Stammkundschaft, Altersdurchschnitt Mitte 70, setzt sich aus gesetzten, meist schon pensionierten Beamten der Ministerialbürokratie zusammen. Prädikatsjuristen, die ihren Dienst in der Justiz-, Finanz- oder Innenverwaltung absolviert haben. Diesen Männern (Frauen sind in dieser Alterskohorte und Berufsgruppe eine eher zu vernachlässigende Größe) war es schon seit jeher "wurschd", wer in der Regierung saß. Die wurde ohnehin seit Urzeiten von der CSU gestellt und mit den einzelnen Ministern habe man sich "eben arrangiert", berichtet ein grauhaariger, grauflanellbehoster Ministerialrat mit Leinenjanker - das Kleidungsstück war vor Jahren auch als "Sommer-Stoiber" bekannt. Ja, auch mit dem Edmund habe man sich arrangiert, und solange man diesen im Glauben gelassen habe, dass er der allerbeste Jurist unter der bayerischen Sonne sei, war mit ihm auch ein gutes Auskommen. Ganz anders sei es dagegen mit dem Söder. "Den kann halt wirklich gar keiner leiden", sagt der Trachtenträger – und am Tisch nicken die Stammtischbrüder zustimmend. Die Szenerie könnte aus dem Roman "Erfolg" von Lion Feuchtwanger stammen. Feuchtwanger platziert in den frühen 1920er Jahren seine Protagonisten, Minister und andere Politiker inklusive Rauhaardackel, in der "Tiroler Stube" und lässt sie an ihrer Tafelrunde über das Land Bayern und ihre Einwohner räsonieren. Dort denkt der Minister Klenk: "Es war ein Skandal, dass bloß die Dummköpfe ins Kabinett gingen."

Sechs U-Bahnstationen nördlich vom geschichtsträchtigen Odeonsplatz residiert in einem sterilen, mit Bürohäusern zugestellten Areal die Staatspartei und ihr Zentralorgan, der "Bayernkurier". Allmählich dämmert es dort den CSU-Funktionären, dass die Idee, ihren Vorsitzenden nach Berlin abzuschieben und das Ministerpräsidentenamt Markus Söder zu übertragen, vielleicht doch keine ganz so gute war. Wenn die Wahl, worauf die Prognosen hindeuten, zum Desaster werden sollte, hat die Partei nicht zuletzt ein finanzielles Problem. Stichwort Wahlkampfkostenerstattung. Vielleicht hängen deshalb – im Vergleich zur AfD – auffallend wenig Plakate der CSU in der Gegend herum? Lieber jetzt schon sparen? Hätte man nicht ahnen können, dass der Altbauer Seehofer sich eben nicht mit dem Austragshäuserl Bundesinnenministerium still und leise begnügt, sondern mit der Kettensäge eine veritable Schneise der Verwüstung anrichtet? "Wenn der Markus nicht 40 Prozent plus x holt, hätt' mer den Horst auch in München behalten können", meint einer, der beide Kontrahenten gut kennt. Tja, der Markus und der Horst, sie können halt dem nun schon vor 30 Jahren verschiedenen Vorvorvorgänger das Wasser nicht reichen. Noch heute gibt es in der CSU-Zentrale Devotionalien vom großen Vorsitzenden. Aufkleber mit seinem Konterfei oder mit seinem Namenskürzel "FJS". "Strauß geht immer", sagt eine Sekretärin zum Abschied.


Der Autor ist in München geboren (1966) und aufgewachsen, hat für ein Münchner Magazin (Focus) gearbeitet, und lebt im schwäbischen Exil (Stuttgart-Degerloch), eigentlich nur wegen der günstigeren Mieten.


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1 Kommentar verfügbar

  • Peter Meisel
    am 10.10.2018
    Antworten
    Ende der Gemütlichkeit - Danke, sehr gut! Mir gefällt, dass "Der Autor ist in München geboren (1966) und aufgewachsen, hat für ein Münchner Magazin (Focus) gearbeitet, und lebt im schwäbischen Exil (Degerloch), eigentlich nur wegen der günstigeren Mieten." wie das ehemals hochgelobte Bayern zur…
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