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Schluss mit Stuttgart

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Warum, um Himmels willen, zieht jemand von Stuttgart nach Brandenburg? Die Miterfinderin der Montagsdemos, Helga Stöhr-Strauch, tut genau das. In einer "zu Tode gerittenen Stadt" wolle sie nicht mehr leben, sagt die 56-Jährige.

Gehen, solange es noch geht oder Stuttgart im beginnenden Frühling 2018: Drinnen, im Wohnzimmer von Helga Stöhr-Strauch, hängt ein Hirsch mit Atemschutzmaske. Draußen, auf der Straße, prangt ein Werbeplakat für die Stadt, die wir lieben sollen. Mit einem Herz in der Mitte. Vor das Plakat hat jemand hingekotzt. In den "Stuttgarter Zeitungsnachrichten" kommentiert der Lokalleiter scharf und sagt, wer, wie dieser Theater-Intendant Peymann, diese Stadt als menschenfeindlich bezeichne, habe einen "ideologischen Blick". Ungetrübt von der Lebenswirklichkeit, die keineswegs etwas mit mächtigen Autokonzernen und willfährigen Grünen-Politikern zu tun habe. Da hat es der Frau mit dem Hirsch gereicht.

Kann man nicht verstehen oder will man nicht verstehen, dass eine Stadt, in der die Schwachen keine Chance zum Bleiben, und die Menschen keine Möglichkeit zum Erholen haben, menschen- und lebensfeindlich ist? Danke, Herr Peymann, Sie haben den Nagel auf den Kopf getroffen. (Helga Stöhr-Strauch)

Helga Strauch-Stöhr hat dem Lokalleiter einen Brief geschrieben und aufgezählt, was ihr alles Pein bereitet:

Die SUV-Fahrer, die werktags ihr Viertel (Heusteig) verstopfen, die Bürgersteige zustellen und über autofreundlich geschaltete Ampeln brettern. Mercedes- und Porsche-Lenker, die wochenends ihre Kinder in Rikschas packen und in Auspuffhöhe durch das gentrifizierte Quartier kutschieren.

Soll Alexander jetzt eine Sauerstoffmaske tragen?

Die Luft, die inzwischen so schlecht ist, dass ihrem lungengeschädigten Mann vom Arzt empfohlen wurde, Stuttgart zu verlassen. "Soll Alexander jetzt eine Sauerstoffmaske tragen?", fragt seine Frau.

Der Glaube, dass mit Beton- und Glitzerburgen ein Grad von Menschenfreundlichkeit erreicht sei, der mit jeder Tonne Zement gesteigert werden kann.

Sie schließt ihren Brief mit dem Wunsch an den Lokalleiter, er möge eine schöne Zeit in einem Medienkonzern haben, "der sich redlich Mühe gibt, die Stuttgarter Situation schön zu schreiben". Eine Antwort hat sie nie erhalten.

Die Bitterkeit ist auch biographisch bedingt. 1984 ist die gebürtige Mainzerin nach Stuttgart gekommen, 22 Jahre jung war sie damals und Studentin der Germanistik. Beim Federballspielen im Stadtgarten habe sie sich in die Stadt verknallt, erzählt sie, und sich 26 Jahre später zu Tode geängstigt. Beim Schwarzen Donnerstag 2010, als alte Leute von "Roboter-Polizisten herumgewirbelt" wurden. Dazwischen lagen die Hochzeit mit Alexander Strauch, der beim Staatstheater Tontechniker war, die Geburt zweier Söhne, acht Kanarienvögel in drei Wohnungen sowie die Begegnungen im Schloßgarten mit verloren geglaubten KommilitonInnen, die alle Heinrich Steinfest, Christine Busch und Jeschi Paul zuhörten. Das sei, sagt sie, und lächelt für einen kurzen Moment ein seliges Lächeln, ihr Sommermärchen gewesen. 

Eine fröhliche, bisweilen biestige Frau, die Blumen und Bücher verkaufte, beim Wittwer zum Beispiel, für wenig Geld, Theater spielte und für die "Stuttgarter Nachrichten" Texte schrieb, die ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr bestellt wurden: Helga Stöhr-Strauch war eine der ersten Aktivistinnen gegen Stuttgart 21, eine, die zu den <link https: www.kontextwochenzeitung.de gesellschaft montagsdemo-die-erste-4842.html _blank external-link>ErfinderInnen der Montagsdemonstrationen zählte – und bitter enttäuscht wurde.

Bespuckt fürs Dagegensein

Sie hat für die Grünen Wahlkampf gemacht, sie wollte die CDU weg haben und hat dafür schwarze Grüne gekriegt, einen Ministerpräsidenten, der Wahrheiten durch Mehrheiten ersetzt, einen Oberbürgermeister, der S-21-Gegner als Ewiggestrige betrachtet. Trotzdem oder gerade deshalb hat sie den Oben-Bleiben-Button nicht ablegt. Ein Jahr nach dem Schwarzen Donnerstag hat sie ein älterer Mann deshalb angespuckt und gesagt, sie, die "Dagegner", sollen doch endlich aufhören und einsehen, dass sie verloren hätten.

Da ist etwas zu Bruch gegangen. Der Traum, zusammen etwas verändern zu können, und sei die Gegenmacht noch so groß. Das war die Zeit des scheinbaren Gehörtwerdens, des zivilen Ungehorsams, der Hauptstadt des Widerstands, der Stuttgart plötzlich mit etwas anderem berühmt machte, als mit Mercedes und Porsche und den dazugehörigen Straßenschneisen.

Im Jahr 2012 hat sie aufgehört, regelmäßig zu den Montagsdemos zu gehen. Sie spürte ihre Hilflosigkeit und den Zorn darüber, Energie nicht mehr in Aktion umwandeln zu können, und fand Trost in dem Bild an der Wand, das Gangolf Stocker gemalt hat, das S-21-Dagegen-Urgestein. Es ist ein Geschenk ihres Mannes und heißt "Die Erscheinung", was immer da kommen möge. Auf jeden Fall warten die Menschen auf etwas, im besten Fall immer auf etwas Gutes. Da guckt sie drauf, wenn sie glaubt, es wieder mal nicht aushalten zu können, wie ihre MitstreiterInnen behandelt werden. Sie denkt dann an die Bürgermeisterriege, die "arrogant" herum grinse, wenn sich Hannes Rockenbauch (SÖS) zu Wort melde. Und sie erinnert daran, dass Bürgermeister Werner Wölfle (Grüne) mit ihr einst gegen den Tiefbahnhof zu Felde gezogen ist.

Ich erfahre, dass der grüne Sozialbürgermeister, der einst bei der Caritas angestellt war und mit uns für den Kopfbahnhof gestritten hat, heute die hohen <link https: www.kontextwochenzeitung.de politik die-stuttgarter-rechnung-4553.html _blank external-link>städtischen Unterkunftspreise für Flüchtlinge für völlig in Ordnung hält. (Helga Stöhr-Strauch)

Alles Geschichte. Die "Stuttgarter Zeitung", die sich einst rühmte, S 21 möglich gemacht zu haben, <link https: www.kontextwochenzeitung.de medien zicke-zacke-zielcke-1052.html internal-link-new-window>siehe den legendären StZ-Autoren Adrian Zielcke, bläst inzwischen in ein anderes Horn. Sie findet S-21-Opfer in Ulm, auf deren Dachboden sich Ratten tummeln, hoch getrieben von den Sprengungen im Untergrund. Die Bewohnerin, Frau Pintar, zeigt einen Eimer voller toter Nager, die sie mit Giftköder erwischt hat. Das sei ziemlich eklig gewesen, berichtet sie.

In Brandenburg wartet ein Bungalow mit Grün drumrum

Das geschieht alles ohne sie, zieht an ihr vorbei, mal in diese, mal in jene Richtung, ohne sie nach dem Weg zu fragen. So schaut die Frau jetzt auf sich und ihren nichtrauchenden Mann, der unter einer chronisch obstruktiven Bronchitis (COPD) und den Folgen eines Verkehrsunfalls leidet. Im September 2015 war's, als ihn ein Pforzheimer Pizzabäcker am Stuttgarter Wilhelmsplatz vom Roller geholt hat. Einfach an einer roten Ampel über den Haufen gefahren. Seitdem ist Alexander Strauch schwer beschädigt und froh darüber, dass ihm der linke Unterschenkel nicht amputiert werden musste.

Jetzt ist Schluss. Helga Stöhr und Alexander Strauch verlassen die Stadt. Nach 34 Jahren. Die Wohnung in der Altenbergstraße, für die sie jahrelang gearbeitet haben, ist verkauft, der Möbelwagen auf den 2. Mai bestellt, um aus der "zu Tode gerittenen Stadt" gen Norden zu entschwinden. Sie wollen raus aus der schlechten Luft, raus aus dem Verkehr, raus aus den horrenden Lebenshaltungskosten.

Wir verlassen diese Stadt, weil sie aufgerissen, zugebaut und so zerbrochen ist wie der Traum vom Sommermärchen in den Jahren 2009 bis 2011, den Hoch-Zeiten unseres bürgerlichen Engagements gegen das dümmste Projekt seit dem Turmbau zu Babel. (Helga Stöhr-Strauch)

Sie ziehen nach Brandenburg in die gleichnamige Stadt, ohne jemanden zu kennen, in einen Bungalow im Grünen, wo der Mann frei atmen kann. Alexander Strauch ist inzwischen 61 und Rentner, sie ist 56 und sicher, dass sie als Multitalent etwas finden wird. Ob das gut gehen wird, gerade in Brandenburg, wo das Fremde eher selten willkommen geheißen wird, wer weiß? In diese braune Ecke wollt ihr ziehen, werden sie von Freunden gefragt, und Helga Stöhr sagt dann, dass die AfD in Stuttgart kein kleinerer Haufen sei. "Zieht lieber mit uns fort", ruft sie ihnen zu, "etwas Besseres als den Tod findet ihr überall".


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23 Kommentare verfügbar

  • Real Ist
    am 09.05.2018
    Antworten
    Herzlichen Glückwunsch an alle, die aus dieser mittlerweile zugrunde gerichteten Stadt fliehen können, auch bei mir laufen die Vorbereitungen, exakt vier Tage vor Renteneintritt steht bei mir der Möbelwagen vor der Tür.

    Es ist müßig, die ganzen bekannten Missstände aufzuzählen, aber wer nach 58…
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