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Es zählt jeder Hosenscheißer

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Wenn der Anruf kommt, muss es schnell gehen. Dann heißt es, Rucksack packen und ab in den Flieger Richtung Katastrophengebiet. Klaus Volmer aus Oberschwaben ist ein "Arzt ohne Grenzen". Die Organisation nimmt jetzt keine Spenden von EU-Mitgliedern mehr an – aus Protest gegen deren Flüchtlingspolitik.

Klaus Volmer praktiziert als Kinderarzt in Amtzell. Wohlgeordnete Praxis und Landidylle sind aber nur ein Teil im Leben des 60-Jährigen. Genau wie seine ein Jahr jüngere Ehefrau, Amy Neumann-Volmer ist er Mitglied in der internationalen Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen". Fragt man das Paar nach ihren Einsatzorten, dann ist das die weltpolitische Horrorliste gescheiterter Staaten sowie eine Ansammlung humanitärer Krisengebiete abseits der Weltöffentlichkeit. "Wir gehen in Gebiete, wo andere Organisationen nicht mehr arbeiten", erklärt der Arzt. Dabei sind er und seine Frau keine Hasardeure, sondern es entspricht dem selbst gesetzten Auftrag, "medizinische Nothilfe" dort zu leisten, wo sie am dringlichsten gebraucht wird. Dafür wurde der Hilfsorganisation, die 1971 von französischen Ärzten gegründet worden war, 1999 der Friedensnobelpreis verliehen.

Die Mediziner sind dort, wo die Wunden der Weltpolitik eitern, weil sie die Opfer über die Diplomatie stellen und sich in der Finanzierung unabhängig zeigen. Das hat Mitte Juni zu einer bemerkenswerten Entscheidung geführt: "Ärzte ohne Grenzen" nehmen kein Geld mehr an; weder von der Europäischen Union noch von deren Mitgliedsstaaten. Damit verzichtet die Organisation, gemessen an 2015, auf 19 Millionen Euro von EU-Institutionen sowie 37 Millionen von EU-Mitgliedsstaaten. Das sind 56 Millionen Euro insgesamt. Für Deutschland allein sind es rund vier Millionen Euro, die die Bundesregierung der Hilfsorganisation zur Verfügung gestellt hat, was 3,1 Prozent der Gesamteinnahmen der deutschen Sektion entspricht, die zukünftig in der Kasse fehlen werden, teilt die Berliner Zentrale mit.

Insgesamt finanziert sich die Organisation zu 92 Prozent durch Privatspenden. Und trotzdem: Wer verzichtet freiwillig auf Geld? Welche Organisation brüskiert ihre Geldgeber? Warum? Die Entscheidung von "Ärzte ohne Grenzen" ist eine vernichtende Kritik an der europäischen Flüchtlingspolitik, die ausdrücklich das Türkei-Abkommen einschließt. "Das Abkommen wird von den europäischen Staaten als Erfolg präsentiert, weil es sein Hauptziel erreicht hat: Menschen aus Europa auszusperren", erklärt die Hilfsorganisation. "Während immer mehr Menschen weltweit auf der Flucht sind, bauen die europäischen Regierungen höhere Zäune und setzen Hunde und Grenzpolizei ein, um Menschen, die Schutz und Hilfe brauchen, vor den Grenzen Europas aufzuhalten", heißt es in der Pressemitteilung. Die humanitäre Organisation fordert "zum Schutz" der Flüchtlinge auf statt der "verheerenden Abschreckungs- und Abschottungsstrategien" und erklärt: "Indem wir kein Geld mehr von den europäischen Regierungen und Institutionen annehmen, wollen wir uns deutlich von dieser Politik distanzieren, die Migranten und Flüchtenden Leid zufügt und viele das Leben kostet. Wir werden kein Geld von Regierungen annehmen, deren Politik so viel Schaden anrichtet. [...] Wir können keine Finanzierung durch die EU oder ihre Mitgliedsstaaten akzeptieren, wenn wir gleichzeitig die Opfer ihrer Politik behandeln."

Entsetzt von den Zuständen in Calais

Amy Neumann-Volmer, Allgemeinmedizinerin und Französin, hat sich zuletzt selbst ein Bild von den Verhältnissen gemacht. Sie verbrachte Weihnachten als "Ärztin ohne Grenzen" in Calais, dem französischen Fluchtpunkt am Ärmelkanal, wo bis zu 7000 meist junge Flüchtlinge darauf hoffen, durch den Tunnel nach England zu kommen. Sie habe "einen Kulturschock" erlebt, dass es ein solches Lager und solche Zustände in ihrem Heimatland gibt. Ihr Ehemann ist erst vor Kurzem aus dem Südsudan zurückgekommen, wo er vier Wochen in einem Flüchtlingslager inmitten eines Sumpfgebiets mit 120 000 Menschen geholfen hat, Kinderleben zu retten. Er wirkt ruhig und gefasst, wenn er davon erzählt und Fotos von völlig ausgemergelten Kindern zeigt. Die Ärzte arbeiteten in Schichten und schliefen in einfachen Zelten. Das sei anstrengend gewesen, aber "bei jedem Einsatz bekommt man unheimlich viel zurück". Er schwärmt von den internationalen Teams, die effektiv zusammenarbeiten, und von den Möglichkeiten, mit einfachsten Mitteln viel zu erreichen. Es zähle "jeder Hosenscheißer", der gerettet werde.

Klaus Volmer war selbst von 2008 bis 2014 im Vorstand und sogar zwei Jahre Vizepräsident der Hilfsorganisation und verweist auf das Prinzip der Zeugenschaft (engl. "witnessing"), die ein Eckpfeiler der Arbeit der "Ärzte ohne Grenzen" sei. Die Pflicht zur Nothilfe wird verbunden mit der Pflicht, über die Opfer Auskunft zu geben, für sie einzustehen, für sie Anwalt zu sein. Deshalb habe man den Spendenboykott beschlossen.

Unabhängigkeit und Neutralität sind die wesentlichen Prinzipien humanitärer Hilfsorganisationen, weil dadurch in Konfliktsituationen Hilfe überhaupt erst möglich wird. Nur so kann den Opfern geholfen werden. Das Prinzip der Zeugenschaft ist Unterstützung und Gefährdung zugleich, worüber sowohl zwischen verschiedenen Hilfsorganisationen als auch intern heftig diskutiert wird. In den Selbstauskünften der "Ärzte ohne Grenzen" heißt es: "Diese Neutralität ist aber nicht mit Schweigen gleichzusetzen: Wenn Mitarbeiter von 'Ärzte ohne Grenzen' miterleben, wie ständige Gewalt oder mangelnde Hilfe die Menschen quälen und zermürben, machen sie dies, wenn möglich, öffentlich."

"Wo sind die Menschen?"

Der Spendenboykott ist ein Hilferuf – den Klaus Volmer nicht kommentieren will. Stattdessen stellt er die Frage: "Wo sind die Menschen?" Gemeint sind diejenigen, die seit Schließung der Grenzen und seit dem Türkei-Abkommen nicht mehr nach Deutschland kommen. Die Menschen, die nicht mehr zu uns kommen können, seien weiterhin auf der Flucht. Für den Arzt machen die europäischen Staaten "eine unmenschliche Politik". Es gäbe "eine Mauer des Schweigens" und die Illusion "alles ist gut". Und Klaus Volmer wiederholt seine Frage: "Wo sind die Menschen?"

Die Hilfsorganisation weiß es, weil sie dort arbeitet, wo die "Ausgesperrten" sind, und sie verweist darauf, dass auf der Mittelmeerroute "nach aktuellem Stand 2016 bereits doppelt so viele Menschen ums Leben kamen wie im Vergleichszeitraum des Jahres 2015". So seien in diesem Jahr "bereits mehr als 2800 Menschen" im Mittelmeer ertrunken. "Nein, nichts ist gut!", sagt Klaus Volmer, der wie seine Frau weiterhin seinen Rucksack packen wird, wenn der Anruf kommt. Denn es zählt "jeder Hosenscheißer".

 

Der Text erschien zuerst in "Blix. Das Magazin für Oberschwaben". Für Kontext wurde er leicht verändert.


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2 Kommentare verfügbar

  • Susanne
    am 15.07.2016
    Antworten
    Man kann vor "Ärtze ohne Grenzen" nur den Hut ziehen und - spenden!! Dauerspender, Einmalspender werden kann man ganz einfach hier:…
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