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Nicht borniert

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Den meisten Demonstranten gegen Stuttgart 21 geht es nicht um egoistische Interessen, sondern um das Gemeinwohl. Das sagt jedenfalls Dieter Rucht von der Freien Universität Berlin, der als einer der besten Kenner der Protestbewegungen in Deutschland gilt.

Die Polizei sei am 30. September 2010 im Schlosspark dezidiert gewaltsam vorgegangen, sagt Dieter Rucht. Foto: Chris Grodotzki

Herr Rucht, wann hat eine Bürgerbewegung in Deutschland je eine Regierung gestürzt?

Das war zuletzt 1989 in der DDR. Und gerade beobachten wir Ähnliches in Nordafrika. Doch in der DDR und in Afrika ging beziehungsweise geht es um die Abschaffung diktatorischer Regimes. Die Menschen wollen demokratische Grundrechte und Freiheiten erlangen. Den Bürgern in der Region Stuttgart geht es um Veränderungen innerhalb des Systems. Es ist eine reformerische Protestbewegung. Der Soziologe Dieter RuchtIch kenne keine regionale Bewegung dieser Art, die so intensiv und beharrlich agiert. Und dies, obwohl das Projekt Stuttgart 21 formaldemokratisch in jeder Hinsicht abgeschlossen ist.

Gibt es ein Ereignis, das die aktuellen Protestbewegungen in Stuttgart und anderswo beflügelt hat?

Es gibt eine Reihe von Faktoren, die eine kritische Stimmung in der Bevölkerung hervorbringen. Vor allem der Hintergrundfaktor Finanzkrise und Wirtschaftskrise. Das hat in Deutschland zunächst nichts ausgelöst, aber jetzt kippt allmählich die Stimmung um.

In einigen Medien wurde der Aufstand in Stuttgart mit dem Streit über den Erhalt der Gymnasien in Hamburg gleichgesetzt, mit dem Kampf einer Elite um ihre Privilegien. Der "Spiegel"-Journalist Dirk Kurbjuweit verglich sogar Sarrazin-Anhänger mit S-21-Gegnern.

Unsere Untersuchungen* haben ergeben, dass es dem überwiegenden Teil der Demonstranten in Stuttgart nicht um egoistische oder bornierte Interessen geht. Das tragende Motiv ist die Sorge um das Gemeinwohl – darüber, wofür die Steuergelder ausgegeben werden und wer letztlich von dem Projekt profitiert. Und es ist eine prinzipielle Auseinandersetzung über die Bedingungen demokratischen Entscheidens.

Ein anderer Vorwurf lautet, der Stuttgarter Protest sei lediglich eine emotionsgeladene Wut-Bewegung, das tumbe Hoffen auf eine bessere Welt.

Diese Bewertung – zumal mit dem abwertenden Unterton – ist problematisch, selbst wenn die Leute tatsächlich eine Wut im Bauch hatten und wohl immer noch haben. Doch darauf kann man den Protest nicht reduzieren. Gerade die Stuttgarter Projektgegner haben viel Sachwissen erworben und beim sogenannten Faktencheck mit Heiner Geißler bewiesen, dass sie gute Argumente haben. Das Alternativprojekt Kopfbahnhof 21 ist eben kein Hirngespinst.

Gerne werden in einigen Medien und von diversen Politikern ehrenamtliches Engagement und Protest einander gegenübergestellt. Meistens zu Gunsten der freiwilligen, unentgeltlichen Arbeit für unsere Gesellschaft. War dies auch früher so?

Es gab schon früher Versuche, diese beiden Formen von Engagement zu trennen – auch im Deutschen Bundestag. Aber der Protest ist ebenfalls ein bürgerschaftliches Engagement. Unsere Befragung in Stuttgart hat im Übrigen gezeigt, dass sich die S-21-Gegner in höherem Maße an Wahlen beteiligen als der Durchschnitt der Bevölkerung. Und viele Demonstranten sind gleichzeitig in anderen Bereichen aktiv – zum Beispiel für karitative Einrichtungen oder für den Umweltschutz. Diese Trennung ist nach meiner Einschätzung sachlich nicht zutreffend, eher Teil eines politischen Manövers.

Gibt es Parallelen zur Anti-AKW-Bewegung der 70er- und 80er-Jahre?

Die Problematik der Atomenergie betraf die Zukunft der gesamten Republik. Insofern hatte und hat sie eine andere Dimension als das Thema Stuttgart 21. Aus dem Bahn- und Immobilienprojekt entsteht jedenfalls keine permanente akute Gefahr für Leib und Leben vieler Menschen. Bei der sozialen Zusammensetzung der beiden Bewegungen gibt es etliche Parallelen. Die bürgerliche Mitte ist heute in Stuttgart noch stärker repräsentiert als beim heutigen Antiatomprotest. Letzterer ist sehr stark geprägt von aktionsorientierten jüngeren Leuten und den Demonstranten, die während der 70er- und 80er-Jahre schon aktiv waren und ein erhebliches Erfahrungspotenzial mitbringen.

Sie sehen weitere Unterschiede?

Der Kampf gegen das geplante Atomkraftwerk in Wyhl am Kaiserstuhl, der 1973 begonnen hatte, wurde später bundesweit unterstützt. Der Widerstand in Stuttgart wurde zwar bundesweit mit viel Sympathie verfolgt; er bleibt aber eine primär regionale Auseinandersetzung. Die Demonstranten kommen fast ausschließlich aus Stuttgart und der näheren Umgebung. Und die Mobilisierung findet weniger über Großorganisationen wie Gewerkschaften statt, sondern eher über persönliche Netzwerke. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Stuttgart 21 stark von manch anderen Protesten.

Wie sieht die Erfolgsbilanz der früheren Protestbewegungen aus?

Der Sieg der Anti-AKW-Bewegung vor den Gerichten im Fall Wyhl wäre ohne die Stärke der Proteste kaum zustande gekommen. Übrigens wurde die Wiederaufarbeitungsanlage im bayerischen Wackersdorf am Ende durch die Industrie – vor allem den Siemens-Konzern – zu Fall gebracht. Zur Verärgerung der bayerischen Staatsregierung und der Bundesregierung, die an diesem Entscheidungsprozess nicht beteiligt waren. Dabei hatten bauvorbereitende Maßnahmen längst begonnen. Die Abkehr vom Projekt war aber auch ein Ergebnis der Katastrophe in Tschernobyl, der anschließenden Proteste und des Kurswechsels der SPD. Die eigenständige Wiederaufarbeitung abgebrannter Kernbrennstäbe machte aus Sicht der Betreiber keinen Sinn mehr, wenn kein Schneller Brüter in Betrieb geht und das Atomprogramm eingefroren wird. So war es billiger, die bereits bestehende Anlage in Frankreich zu nutzen. Doch ohne Proteste wäre in Wackersdorf bereits früher, und vielleicht irreversibel, mit dem Bau begonnen worden. Nach Jahren wurde übrigens auch die Stationierung von neuen Mittelstreckenraketen zurückgenommen. Letzten Endes war auch das ein Erfolg. Auf der anderen Seite sind aber auch glatte Misserfolge zu verzeichnen. Die meisten Atomkraftwerke oder auch der Rhein-Main-Donau-Kanal wurden trotz Widerstandes gebaut. Häufig erreichen Proteste Teilerfolge, beispielsweise wurden die Sicherheitsauflagen für Atomkraftwerke erhöht, ökologische Folgelasten von Großprojekten reduziert oder – allgemein – Projekte kleiner als geplant realisiert.

In Stuttgart war der Protest bis vor Kurzem auf Seiten der Demonstranten sehr friedlich. Seit dem 20. Juni beklagt die Polizei einen schwer verletzten Beamten. Wie war das Verhältnis zur Gewalt früher?

In Brokdorf und Grohnde gab es vermutlich die härtesten und auch gewalttätigsten Auseinandersetzungen. Lokale Initiativen und linksradikale Gruppen – vor allem aus Hamburg – blieben einander fremd. In Stuttgart haben wir ein deutlich anderes Bild: Es kommt – mit Ausnahme der Ereignisse am 20. Juni – zwar gelegentlich zu Rangeleinen, aber zu keinen Szenen wie in Brokdorf, wo die Gewalt auch und vielleicht sogar überwiegend von einem Teil der Demonstranten ausging. Der Protest in der Schwabenmetropole konnte bis zum 20. Juni nicht als gewalttätig diskreditiert werden. Die Einschätzungen des 20. Juni sind strittig, die Sachverhalte noch ungeklärt. Die gewaltfreie Orientierung in Stuttgart vereint aber offenkundig immer noch fast alle Demonstranten. Diskutiert wird allerdings darüber, wie weit der zivile Ungehorsam gehen soll. Dagegen ging am 30. September 2010 die Stuttgarter Polizei völlig unverhältnismäßig und dezidiert gewaltsam vor. Als hilfreich hat sich in Stuttgart herausgestellt, dass die Bewegung gegen S 21 nicht von einer einzelnen Gruppierung oder gar einer Partei dominiert wird. Das Spektrum reicht vom BUND bis zu den Parkschützern oder von den Linken über die Grünen bis zu den SPD-Leuten, die den Kopfbahnhof erhalten wollen. Und es gibt etliche ehemalige CDU-Wähler unter den Demonstranten, deutlich mehr als bei Friedensdemos der 80er-Jahre oder bei Protesten gegen Hartz IV. Offenheit und ein sehr weit reichender Pluralismus ist ein Markenzeichen des Stuttgarter Protests, auch wenn der jetzt auf eine harte Probe gestellt wird.

Die Forderung nach mehr Demokratie spielte bei allen Bürgerbewegungen immer eine große Rolle. Jetzt wird es möglicherweise im Herbst eine Volksabstimmung geben.

Die politische Wahl, bei der man immer ein gesamtes Programm- und Personalpaket wählt, ist ungeeignet, um Stellungnahmen zu einzelnen politischen Fragen abzugeben. Die Bürger wollen nicht nach vier Jahren einfach nur die Köpfe ausgetauscht sehen, sondern fach- und sachbezogene Diskussionen. Auch deshalb mischen sie sich zunehmend ein, fordern Bürgerbegehren, Volksentscheide oder machen eben Druck auf der Straße. Das Instrument der Volksabstimmung in Baden-Württemberg ist kein echtes Beteiligungsangebot, denn das Mindestquorum liegt laut Verfassung bei einem Drittel der Wählerstimmen. In Bayern gibt es gar kein Quorum. Eine Volksabstimmung macht aber nur Sinn, wenn diese Hürde fällt oder deutlich reduziert wird. Wer S 21 durch einen Volksentscheid kippen will, aber die Hürden so belässt, begeht einen strategischen Fehler, weil er auf ein Instrument setzt, das Veränderungen letztlich verhindert, anstatt sie zu ermöglichen.

Das Gespräch führte Hermann G. Abmayr.

Der Soziologe Dieter Rucht (64), der im bayerischen Schwaben aufgewachsen ist, leitet die Forschungsgruppe Zivilgesellschaft an der Freien Universität Berlin. Rucht befasste sich schon früh wissenschaftlich mit Bürgerprotesten. Seine Dissertation von 1980 trägt den Titel "Von Wyhl nach Gorleben. Bürger gegen Atomprogramm und nukleare Entsorgung". Sein jüngstes Werk "Die sozialen Bewegungen in Deutschland seit 1945. Ein Handbuch" hat er 2008 zusammen mit Roland Roth herausgegeben. Zudem ist Rucht seit Jahren Mitherausgeber der Buchreihe "Bürgergesellschaft und Demokratie".

* <link http: www.wzb.eu de external-link-new-window>Das Berliner Wissenschaftszentrum für Sozialforschung (WZB) hat im vergangenen Herbst erstmals wissenschaftlich untersucht, welche Motivation hinter den Protesten steckt. Die Studie von Dieter Rucht, Britta Baumgarten und Simon Teune stammt von der Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa.

Hermann G. Abmayr ist Journalist, Buchautor und Filmemacher. Sein jüngster Dokumentarfilm trägt den Titel "<link http: www.stuttgart-steht-auf.de external-link-new-window>Stuttgart steht auf - Porträt einer neuen Demokratiebewegung".


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1 Kommentar verfügbar

  • matthiasstr
    am 29.06.2011
    Antworten
    Herzlichen Glückwunsch zu diesem Artikel!
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