Wolf war frustriert. Und sauer. Sein Freund Stefan, der smarte Manager mit der Penthouse-Wohnung in Stuttgarter Halbhöhenlage, hatte über ihn abgelästert. Nur weil er sich bei ihrer Hohenneuffen-Tour vor Kurzem als Lyrikfan und Mittelalter-Freund geoutet hatte. Und nur weil er auf der Burgruine von Raum und Zeit, außen und innen erzählt und Jahreszeiten-Gedichte rezitiert hatte. Von Gottfried von Neifen, Friedrich Hölderlin und Ingeborg Bachmann. Was solle das alles, dieser Herz-Schmerz-Quark und das mit den Denkmustern, das sei doch alles ein alter Hut, kalter Kaffee, Schnee von vorgestern! Ja, so war Stefan danach über ihn hergezogen. Dagmar, die Hobbypsychologin, hatte es ihm brühwarm erzählt und sinniert, ob Stefan das mit den Denkmustern irgendwie als Provokation aufgefasst habe. Weil er doch immer betone, man müsse immer nach vorne schauen, nur nach vorne. Und seinen Weg machen. Das Schlimmste aber war: Stefan hatte ihm einen üblen Spitznamen verpasst – "Ivanhoe, der Rächer der Romantiker". Dagmar fand das irgendwie wirklich böse von Stefan.
Wolf wurmte all das. Doch ihm war eine Idee gekommen. Er schickte Stefan eine Mail: Was er davon halte, am nächsten Abend mal wieder was trinken zu gehen. Die Antwort kam rasch: "Gute Idee. Bis morgen." Das taktische Manöver konnte starten.
Die Weinstube in der Nürtinger Innenstadt war die rundum sanierte Neufassung einer früheren Szenekneipe. Die Holztische waren rustikal-gediegen, dekoriert mit künstlichen Blumensträußchen. Der Wirt knallte nicht Bier, Gyros und Krautsalat wortlos auf den Tisch, wie es früher im linken Lokal der Fall gewesen war, sondern fragte den Gast höflich nach dem werten Befinden, bevor er die Bestellung aufnahm und Wein mit Häppchen kredenzte. Das Ambiente war gutbürgerlich, das Publikum damit kompatibel.
Wolf war nervös, als Stefan, der etwas später gekommen war, sich setzte. Bloß keinen strategischen Fehler machen, keine vorschnelle Offensive, erst einmal Ruhe ins Spiel bringen, dachte Wolf. "Was macht der Job?", fragte er.
Stefan begann zu erzählen, von seiner jüngsten Geschäftsreise, "Mailand, Rom, Zürich." Und er brachte die neueste Anekdote über seinen internen Lieblingskonkurrenten in der Firma: "Der wollte mich beim Vorstandsmeeting auflaufen lassen. No chance."
Der Zufall half Wolf. In der Weinstube lief Musik, nicht schreiend wie früher aus der versifften Jukebox, sondern diskret-digital im Hintergrund. "Mandy", der Uraltsong von Barry Manilow – in der Neufassung von Westlife. Wolf merkte, dass auch Stefan genauer hinhörte. Kurzfristig änderte er die Taktik.
"Was hältst du von solchen Coverversionen?", fragte Wolf.
"Die haben in letzter Zeit ja Hochkonjunktur", sagte Stefan. "Manche Neufassungen finde ich echt gut, gerade 'Mandy', das klingt fast flotter als im Original."
Sie begannen, alte Songs durchzugehen, die inzwischen gecovert wurden, warfen sich gegenseitig die Titel zu: Bob Dylans "Knockin' on heaven's door", "The first cut is the deepest" von Rod Stewart, Elton Johns "Sorry seems to be the hardest word". Und, ach ja: "Father and son" – der Song von Cat Stevens, der in ihrer pubertären Rebellion gegen die "Alten" wie Öl runtergegangen war.
Stefan und Wolf versuchten sich an die entscheidenden Stellen zu erinnern. Wie war das noch? "You're still young, that's your fault, there's so much to have to know", sagt der allwissende Vater und rät dem Sohn, ruhig zu werden und sich niederzulassen. Der aber schert sich einen Teufel drum. "From the moment I could talk, I was ordered to listen", hält er dem Alten entgegen. Und: "There's a way, and I know that I have to go away."
"Mein Gott, das ist eine Ewigkeit her", sagte Stefan.
"Da hast du recht", erwiderte Wolf. "Irgendwie verrückt, heute stehen die Kids zum Teil auf dieselben Songs wie wir damals. Als ob Vergangenheit Gegenwart wird."
Stefan horchte auf. Schöpfte er Verdacht?
"Die Cover-Generation", sagte er ironisch.
"Meinst du, wir waren das Original?", fragte Wolf.
Die Lockerungsübungen hatten ganz gut geklappt. Schluss mit dem Aufwärmtraining, dachte Wolf. Jetzt schien die Gelegenheit günstig, die eigentliche Partie anzupfeifen.
Wolf nahm einen tiefen Schluck Wein. "Sag mal, Stefan, was anderes. Du kennst dich fußballstatistisch doch sehr gut aus."
"Na ja", wehrte Stefan ab, er schien aber doch geschmeichelt zu sein. "Worum geht's? Frag jetzt bloß nicht, in welcher Saison deine Gladbacher ausnahmsweise gegen den VfB gewonnen haben."
"Nein. Weißt du, welche deutschen Fußballstars in ihrer Laufbahn einen Hattrick geschossen haben?"
Wolf sah, wie Stefans Augen sofort zu leuchten begannen.
Minutenlang rutschte er unruhig auf seinem Stuhl herum, stierte abwechselnd zur Decke und in die Tiefe des Raumes oder horchte angestrengt in sich hinein.
Dann atmete er heftig aus, wie Bundesliga-Profis, die Sekunden nach dem Spiel von Fernsehreportern gefragt werden, wie sie die letzten neunzig Minuten empfunden haben. "Das ist schwierig. Ich bin mir nicht ganz sicher", sagte Stefan.
"Du hast alle Zeit der Welt", munterte Wolf ihn auf und überlegte gleichzeitig, ob er diese fußballphilosophische Sentenz von Marcel Reiff oder einem anderen TV-Bundesliga-Rhetor hatte.
Dann meldete sich Stefan ins Spiel zurück. "Ich glaube, auf jeden Fall hat Jürgen Klinsmann einen Hattrick geschossen. Und dann auch noch Klaus Fischer und Dieter Müller."
"Vielen Dank, du hast mir wirklich sehr geholfen", sagte Wolf und prostete Stefan zu.
"Sag mal, wofür brauchst du das eigentlich?"
Wolf gab die Unschuld vom Lande. "Du, ich beschäftige mich halt gerade mit dem Hattrick."
"Mit dem Hattrick?", fragte Stefan, und seine Verwunderung war ihm deutlich anzumerken.
"Nicht nur", sagte Wolf und versuchte dabei eine betont lässige Handbewegung zu machen, "es geht insgesamt um die Zahl Drei, um den Hattrick, um Witze, Märchen, Werbung und den göttlichen Segen."
Plötzlich hatte Stefan wieder Fragezeichen im Gesicht. Wie auf dem Hohenneuffen. Argwöhnisch blickte er Wolf an: "Was hat der Hattrick mit Witzen zu tun – und mit dem göttlichen Segen?" Kurze Pause. "Ist das wieder eine deiner Spinnereien?"
"Nee, im Ernst. Ich denke, das könnte manchen interessieren. Fußballfans bejubeln den Hattrick, also etwas, was mit der Drei zu tun hat. Warum müssen es gerade drei Tore in einer Halbzeit sein, damit es was ganz Tolles ist, warum nicht zwei oder vier?"
Stefan schien ein Stück weit beruhigt. "Darüber habe ich noch nie nachgedacht. Vielleicht liegt es daran, dass man zwei Tore in einer Halbzeit häufig erzielen kann, vier Treffer aber so gut wie unmöglich sind?"
"Das könnte sein. Auffällig ist aber, dass auch in vielen anderen und ganz unterschiedlichen Bereichen die Zahl Drei eine sehr wichtige Rolle spielt. Viele Witze etwa, die wir erzählen, haben drei Stationen, bis sie zur Pointe kommen. Kannst du dich zum Beispiel an die Witze erinnern, die so beginnen: Ein Amerikaner, ein Franzose und ein Deutscher ..."
Stefan überlegte. Dann schmunzelte er. "Ach so, da gibt es doch auch den: Ein Junge fragt seinen Vater: Papa, warum bin ich so blööööd? Der Vater ist peinlich berührt und sagt: Das kann ich dir nicht sagen, frag deine Oma. Dann geht der Junge zu seiner Großmutter: Oma, warum bin ich so blöööd? Die Oma wird verlegen und sagt, da musst du deine Mutter fragen. Also geht er zu seiner Mutter: Mama, warum bin ich so blöööd? Die Mutter wird puterrot, sagt, ach, Junge, das kann ich dir erst erzählen, wenn du älter bist. In dem Moment kommt der Briefträger zur Tür herein: Post ist dooooo!"
Donnernd lachte Stefan los. Er liebte sozial oder politisch unkorrekte Witze.
Stefans zart gewachsene Sensibilität – zumindest was die Drei anging – musste Wolf ausnutzen. Sein Spiel, so stellte er für einen Moment verwundert fest, trug fast schon missionarische Züge. Wolf stieß den Gedanken beiseite. Jetzt konnte er die Partie nicht abbrechen. "Ich habe mir dann mal überlegt, wo die Dreierstruktur sonst noch vorkommt", sagte Wolf angelegentlich. Die Liste konnte er inzwischen auswendig runterrattern. "Auf die Plätze, fertig, los! Im Sport zählen bei Weltmeisterschaften oder Olympischen Spiele nur die ersten drei Plätze: Gold, Silber, Bronze. Beim sprichwörtlich undankbaren vierten Platz gibt's nur Blech."
Stefan nickte. Langsam schien er sich für Wolfs Spinnerei zu interessieren. "Na klar: aller guten Dinge sind drei."
"Eben."
Bewusst sprang Wolf in ihrem verbalen Triathlon wieder auf andere Dreierfelder. "Auch kindliche Abzählreime gehören dazu: Ene, mene, mu – raus bist du! Und manche Sponti- und Klosprüche funktionieren nach der Dreier-Formel: 'To be is to do', Sartre, 'To do is to be', Camus – 'Do be do be do', Sinatra. Oder nimm Jubel, Trubel, Heiterkeit. Dreimal schwarzer Kater. Menschen, Tiere, Sensationen. Titel, Thesen, Temperamente. Die Drei von der Tankstelle, Drei Männer in einem Boot. Die drei Musketiere, Drei Engel für Charly. Oder auch die Heiligen Drei Könige."
Stefan feixte schon wieder. "Klar, und der flotte Dreier!"
Wolf lachte mit. Natürlich nur aus taktischen Gründen. "In der politischen Geschichte heißt das dann Triumvirat. Oder schau dir die Forderungen der Französischen Revolution an, die in Frankreich heute noch an jedem wichtigen Gebäude prangen: Liberté, Égalité, Fraternité. Die deutsche Hymne beschwört Einigkeit und Recht und Freiheit. Wir haben als Gewaltenteilung die Exekutive, Legislative und Jurisdiktion. Und ab drei Abgeordneten gibt es in den politischen Gremien den Fraktionsstatus."
Stefan hakte ein. "Drei sind einer zu viel."
"Du meinst jetzt die Menage à trois", erwiderte Wolf spöttisch. "Ich wusste, dass du für mein Thema ein absoluter Fachmann bist. Nach dem Motto: Er kam, sah und siegte. Oder: Alles rennet, rettet, flüchtet."
"Und warum Märchen?", fragte Stefan.
"Das ist ähnlich wie bei den Witzen. Nimm zum Beispiel Aschenputtel: Drei Mal holt sie sich vom Haselbaum am Grab ihrer Mutter tolle Klamotten, damit sie doch zum Fest des Königs kann, drei Mal fällt ihr Spruch ,Bäumchen, rüttel dich und schüttel dich, wirf Gold und Silber über mich', drei Mal tanzt sie inkognito mit dem Königssohn, bis dem endgültig dämmert, dass sie die Richtige ist, er sich mit dem goldenen Schuh auf ihre Suche macht und damit der Höhepunkt der Geschichte naht. Zuerst geben die zwei missratenen Stiefschwestern vor, ihr Fuß passe in den goldenen Schuh, der Schwindel fliegt auf – und beim dritten Versuch schnallt der Königssohn endlich, dass Aschenputtel die richtige Schuhgröße hat."
"Stimmt. Beim Märchen 'Der Teufel mit den drei goldenen Haaren' ist es ähnlich. Das ist ja sonderbar."
"Das hat System. Märchen sind etwas Uraltes, das aus dem Volk kommt, auch ungewöhnliche, witzige Geschichten erzählt man sich seit anno Tobak. Und schon immer spielte die Dreierstruktur im Denken eine zentrale Rolle, das hat sich dann ausgeformt. Bis heute."
"Und warum gerade die Drei?"
"Ich ließ mir das mal von einem Tübinger Germanistik-Prof erklären, bei dem ich studiert habe. Die Drei steht für die Ganzheit: zwei und eins. Ein System, das nur aus zwei Komponenten besteht, hat etwas Statisches. Das dritte Element aber bringt Dynamik in die Zweiersache."
Wolf sah, wie Stefan schon wieder griente. "Ja, wie bei der Dreierbeziehung", nahm Wolf das Bonmot vorweg, das Stefan schon auf der Zunge lag. Der schaute leicht enttäuscht.
"Deshalb ist es kein Märchen oder Witz, wenn man den Hattrick mit dem christlichen Segen in Verbindung bringt", fuhr Wolf fort.
Stefan stutzte kurz. Plötzlich verschwand das letzte Fragezeichen aus seinem Gesicht. "Ach so, die Drei steht für das Ganze und Vollkommene. Im Christentum ist das Gott, Jesus und der Heilige Geist."
"Volltreffer. Die heilige Dreieinigkeit. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes."
"Amen."
"Von wegen. Die Geschichte geht noch weiter. Schon als unsere Urururahnen fast noch auf den Bäumen hockten oder Runenrätsel spielten, hatten sie so etwas wie Segen – und die hatten auch eine Dreierstruktur."
Jetzt drängte sich doch wieder ein Fragezeichen auf Stefans Gesicht. "Hä?"
"Ja, es gab sogenannte Zaubersprüche, in Althochdeutsch, dem ersten Deutsch, das wie Halsweh klingt. Sie sollten gegen alles Schlechte wirken: gegen Verrenkungen, Beinbrüche, Blutvergiftungen und andere Gemeinheiten des alltäglichen Lebens." Das habe dann etwa so geklungen: "Bein zu Beine" – eins –, "Blut zu Blut" – zwei –, "Glied zu Glied" – drei –, "damit es geheilt sei."
War Stefan beeindruckt? Wolf wusste es nicht genau. Sein Freund behielt das Pokerface. Egal, jetzt sollte der strategische Showdown kommen. "Diese Zaubersprüche aus dem frühen Mittelalter leben bis heute weiter", sagte Wolf.
Stefan verzog das Gesicht. Er schien in ihm wieder den verrückten Denkmuster-Freak zu sehen oder Ivanhoe, den Rächer der Romantiker. "Du kennst die modernen Zaubersprüche hundertprozentig – als magische Kaufsegen." Wolf machte eine kurze Künstlerpause. "Was fällt dir zum Beispiel bei Ritter-Sport-Schokolade ein?"
Stefan antwortete sofort: "Quadratisch, praktisch, gut."
Dann brach er ab. Er schien überrascht. "Wie?"
"Ja, viele Werbesprüche funktionieren wie die alten Zaubersprüche – sie haben die Dreierstruktur. Weil sie so besonders eindringlich sind, weil man sie sich so am besten merken kann. Weil sie damit perfekt sind."
Stefan gab auf. "Stimmt ja, jetzt, wo du's sagst. Da gab's doch jahrelang auch diese Werbung für Pfeifentabak: "Drei Dinge braucht der Mann: Feuer, Pfeife, Stanwell."
"Oder weiß, weißer, Dasch-weiß. Oder Sport, Spiel und Spannung."
Wolfs Spiel lief gut. "Was wir oft als alte Hüte sehen, ist uns plötzlich gegenwärtig und sehr vertraut, wenn wir uns darauf einlassen und die ollen Kamellen genauer anschauen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Oder Klinsmanns Hattrick."
"Zahlen", rief Stefan und grinste. "Das reicht für heute. Ich habe verstanden." Dann blickte er Wolf lange an. "Du meinst wohl, all dies sind Coverversionen."
Jetzt grinste auch Wolf. "Eine Frage kannst nur du beantworten." Stefan horchte auf.
"Liegt es am Prinzip des Ganzen und Vollkommenen, dass die meisten Unternehmen von drei Managern geführt werden: Vorstandschef, Finanz- und Technikvorstand?"
Stefan lachte glockenhell: "Das muss ich meinen Kollegen erzählen."
Er ahnte nicht, dass Wolfs Spiel mit der Zahl Drei nur das Vorspiel war. Bald würde es ans Eingemachte gehen: ans Glück.
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