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Aufrüstung

Was verteidigt wird

Aufrüstung: Was verteidigt wird
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Es wird schon so sein, dass der Beschluss von unbegrenztem politischen Kredit für die Verteidigung gedacht ist. Harmlos allerdings ist daran nichts, meint der Stuttgarter Staatswissenschaftler Berthold Beimler.

Friedrich Merz und die designierte schwarz-rote Bundesregierung haben nun also auch die Grünen überzeugt, für ihr 500-Milliarden-Euro-Sondervermögen zu stimmen. Dabei werden die Verteidigungsausgaben von der Schuldenbremse nun ausgenommen, sobald die dafür vorgesehenen Ausgaben ein Prozent des Bruttoinlandsproduktes überschreiten. Aktuell wird also ab einer Höhe von 45 Milliarden Euro der politische Kredit für diesen Etat nicht mehr gedeckelt und kann beliebig durch die Regierung erhöht werden.

Die Grünen haben dabei gefordert, dass der Verteidigungsbegriff so erweitert werden soll, dass sowohl Ausgaben für Zivil- und Bevölkerungsschutz, Nachrichtendienste sowie solche zur Unterstützung von völkerrechtswidrig angegriffenen Ländern wie die Ukraine als Verteidigung gewertet werden. So wie einst am Hindukusch, wird Deutschland nun also auch in Kiew verteidigt. Ein erster Hinweis darauf, dass das deutsche Interesse, das hier verteidigt wird, an den deutschen Grenzen nicht haltmacht. Wenn dem so ist, braucht es ein paar Klarstellungen zum Verhältnis von Angriff und Verteidigung.

In Carl von Clausewitz' Klassiker "Vom Kriege" aus dem Jahr 1832 kann man dazu bereits einiges erfahren. Die Verteidigung ist die stärkere Form der Kriegsführung, so Clausewitz, indem sie weniger Mittel erfordert und günstiger ist und so die eigenen Kräfte schont. Der Angriff dagegen verwirklicht noch eine Absicht und muss dafür das feindliche Heer dort schlagen, wo es bisher steht. Beides sind für ihn keine Gegensätze: Wer eine Stellung erfolgreich verteidigt, solle danach zur Gegenoffensive übergehen, und wer etwas durch einen Angriff erobert hat, muss es alsbald verteidigen.

Der gute Ruf der staatlichen Verteidigung als moralisch integre und von außen aufgezwungene Notwendigkeit stellt sich, wenn man Clausewitz folgt, als ebenso unangebracht dar wie die Behauptung, mit "Angriffskrieg" sei schon alles gesagt: Wenn Deutschland sich am Hindukusch und längst auch in Kiew verteidigt, dann sind beide Orte in den deutschen Anspruch integriert worden. Man kann schlechterdings nur verteidigen, was man sich bereits zuordnet. Über die Güte des Programms, was da durch Angriff oder Verteidigung militärisch durchgesetzt wird, ist damit in beiden Fällen nichts gesagt.

Die Presse in West und Ost verzichtet dennoch selten und die Politik nie darauf, die eigene Gewalt jeweils als die der Verteidiger und die Gegenseite als Angreifer zu illustrieren. Schwer fällt das beiden Seiten nicht: Russland verteidigt in der Ukraine seinen Anspruch zu entscheiden, wer in der benachbarten Ukraine regiert, besteht also darauf, seine politischen Zwecke souverän zu bestimmen, und zwar überall, wo Russland es für nötig erachtet: von Georgien bis Kiew. Für eine Macht wie Russland hört ihr Anspruch ebenso wenig an ihrer, wie der Deutschlands an seiner Grenze auf. In der Ukraine verteidigen beide also weit mehr ihre Interessen als irgendeine Regierung in Kiew: Die regelbasierte Weltordnung gilt als angegriffen und deren Anspruch ist global. So verteidigen sich alle Staaten in Kriegen, und es ist nicht mal gelogen: Sie verteidigen ihre Ansprüche, die weit über das eigene Territorium hinaus reichen und sich entsprechend schlecht vertragen.

Bürger und Staat

Wenn auf den Schlachtfeldern der Ehre die Bürger sich im Namen ihrer Staaten gegenseitig massakrieren müssen, dann tun sie das also auf allen Seiten als Verteidiger ihrer Nationen. Ob aus Vaterlandsliebe oder mit dem Bajonett der Feldjäger im Rücken, sind es die Soldaten, welche die staatliche Souveränität ihrer Länder gegen die andere Seite exekutieren: Russische Weltgeltung wird drüben so sehr verteidigt wie hüben die Weltfriedensordnung. Für diese Verteidigung der staatlichen Interessen werden die Bürger einberufen, mit Marschbefehl mobilisiert und Tötungswerkzeug ausgerüstet. Auf einige patriotische Gedanken kann der Staat da durchaus zählen, abhängig macht er sich davon nicht: Die Ansprüche der Nation zu verteidigen ist keine Wahloption im Krieg, sondern Pflicht.

Die erste Wahrheit über den Krieg ist also, dass nicht der Staat seine Bürger, sondern die Bürger ihren Staat und seine Ansprüche verteidigen müssen. Die Waffen werden nicht eingesetzt, damit möglichst viele Bürger überleben, sondern durch die staatliche Aufrüstung werden sie überhaupt erst Opfer. Wie sollte das auch anders sein, kennen die Soldaten doch nicht einmal diejenigen, die sie umbringen sollen, sind also als Soldaten eben ganz Exekutoren eines Interesses, das unpersönlich ist.

Es gehört zum praktischen Zynismus des Krieges, dass die Toten nicht etwa gegen den Krieg sprechen, sondern in einer entsprechend politisierten Öffentlichkeit die Grausamkeit des Feindes illustrieren und damit genau die Souveränität ins Recht setzen, als deren Material die Bürger überhaupt erst ins Zielkreuz der anderen Seite geraten. Das ist dann auch das Elend der friedensbewegten Parole: "Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin." Er kommt gleich doppelt zu seinen Bürgern: als Einberufungsbefehl der eigenen und als Bombe der anderen Seite. Es wird keiner gefragt, ob er den Krieg will, und im Krieg fragt der Staat nicht, ob die Bürger sich daran beteiligen wollen. Sie haben keine Wahl. Was am Ende bleibt, ist Adornos Diktum, sich weder von der eigenen Ohnmacht noch von der Macht der anderen dumm machen zu lassen.

Richten und Recht

Doch so will das keiner sehen. Sicher nicht die designierte Regierung, die jetzt Europa allgemein und Deutschland im Speziellen aufrüstet, um das deutsche Interesse weltweit verteidigen zu können. Sicher auch nicht die Regierungen von Kiew bis Moskau, von Tel Aviv bis zur Protoregierung der Hamas über Gaza: Die propagieren gerade die Identität von Bürger und Staat, also den staatlichen Subjekten des Krieges und ihrem menschlichen Inventar; die sind gerade interessiert daran, dass zwischen der Verteidigung der Staaten und ihrer Souveränität und der Verteidigung der Leute nicht unterschieden wird.

Wenn die FDP-Europaabgeordnete Agnes Strack-Zimmermann im DLF-Interview Mitte Februar davon spricht, dass ein Friedensschluss in der Ukraine mit Verschiebung der Grenzen ein "Verrat an der Ukraine" sei, dann gibt sie es eigentlich offen zu Protokoll: Ein Frieden, der die staatliche Souveränität nicht achtet, ist für sie nichts wert – das Sterben soll lieber weitergehen, bevor ein "Diktatfrieden" zwar Menschenleben rettet, aber eben den Kriegszweck verfehlt. Zu diesem rechnet sie nebenbei und ganz selbstverständlich nicht nur, dass die Ukraine auf keinen Fall Territorium verlieren darf, sondern auch Europa auf keinen Fall am Verhandlungstisch mit Putin fehlen darf. Einmal mehr wird offen gesagt, dass Menschenleben keine Rolle spielen, wenn es darum geht, dass die EU und damit auch Deutschland als Verhandlungspartner anerkannt werden soll, und zwar von den USA und von Russland. Aber es ist ein Protokoll, das niemand liest. Diskutiert wird in der deutschen Öffentlichkeit lieber, dass Putin zu dem Frieden gar nicht bereit ist, den die Strack-Zimmermanns selbst ganz offen ablehnen.

Das gilt natürlich auch umgekehrt. Über Putin wird in Russland nicht schlechter gedacht, wenn der sich mit Atomkriegsdrohungen ins Szene setzt. Bereits 2018 zitiert ihn "Focus online" mit: "Ein Atomkrieg wird eine globale Katastrophe für den Planeten sein. Aber als Bürger Russlands und als russischer Präsident frage ich: Wozu brauchen wir eine Welt, in der es kein Russland gibt?" Solche Ansagen verbuchen patriotische Russen offensichtlich nicht als Ankündigung, dass ihr Leben nur soweit von Interesse ist, als dass es Mütterchen Russland dient, sondern als Insignium eines starken Führers, der sich traut, die Interessen des eigenen Landes auch mit dem denkbar endgültigsten, größten "vaterländischen Krieg" aller Zeiten durchzusetzen.

Es mangelt nicht an Beispielen, mit denen die Staaten beweisen, dass sie es sind, die Tod und Elend im Programm haben, und die Bürger es sind, die für sie diese Schlachten austragen. Die allerdings stellen in West und Ost an sich und andere die kritische Frage, ob die Staaten das denn auch dürfen. Damit richten sie ideel darüber, ob das große Schlachten denn auch gute Gründe hat: Sollen "wir" weiter Waffen senden? Müssen "wir" aufrüsten, um "uns" zu verteidigen? So werden die kreuzverkehrten Debatten in der Bundesrepublik auch in den Eckkneipen und den sozialen Medien geführt: Ausgerechnet wenn die hohen Herren und Damen darüber beraten, wie viele menschliche Opfer ihre Ansprüche wert sind, stellt sich das menschliche Inventar die Frage, ob sie dabei auch im Recht sind. Ein kolossaler Fehler.

Praktisch, weil er die eigene Rolle als Material zementiert. Theoretisch sowieso, denn die Staaten haben alles Recht dazu, sich aufzurüsten und ihre Kriege zu führen. Es gibt einfach keine Instanz über den höchsten Gewalten, welche ihnen verbieten würde, ihre Kriege zu führen. Das Völkerrecht, das sie sich selbst gegeben haben, ist genau so verbindlich für sie, wie sie es für sich verbindlich machen. Dass sie sich darin den Angriffskrieg verbieten, verhindert daher keinen Krieg, sondern ergänzt das große Gemetzel um die diplomatischen Gehässigkeiten, mit denen sich alle Staaten gegenseitig neben den Schlachtfeldern auch noch vorrechnen, wieso sie sich eben nur verteidigen und entsprechend völlig legal töten. Gleiches gilt für das Hinschlachten von Zivilisten, das sich die Staaten ebenfalls nicht verbieten, sondern sich gegenseitig darauf verpflichten, beim großen Blutbad nicht "Zivilpersonen […] außer Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil" zu massakrieren.

Wer sich also die Frage stellt, ob Russland die Ukraine überfallen durfte oder die Ukraine ihre Souveränität noch auf dem letzten Zentimeter der Ukraine verteidigen darf; ob jemand Israel erlaubt hat, den Gazastreifen zu bombardieren, oder der Hamas, ein Massaker zu inszenieren: Der stellt sich als ideeler Richter über das Recht auf und stellt sich die Frage, ob die Staaten ihn und seinesgleichen eigentlich für ihre Zwecke verheizen dürfen in den großen Schlachten unserer Zeit, die alle zur Verteidigung geführt und jetzt von Deutschland noch mit ein paar hundert Milliarden Euro weiter angeheizt werden. Der stellt sich und anderen allen Ernstes die Frage, ob man ihn und andere als Material verheizen darf. Affirmativer kann eine Kritik kaum sein, die es nicht ablehnt, benutzt zu werden, sondern sich fragt, ob es denn auch entsprechend des Rechtskataloges der Staaten passiert.

Opposition und Affirmation

Die AfD und ihre Kritik des Krieges gegen Russland verdankt sich ihrem Blick auf die Kosten des Krieges für die deutsche Nation und ihrem Urteil, dass dieses Land zu viel von russischem Gas und zu wenig von einer ukrainischen Aufrüstung profitieren würde. Sie streitet sich mit der Regierung um den richtigen Kurs, dieses Land voranzubringen, und weiß sich bei allem Dissens mit der Regierung darin einig, wer das Material dieses Wachstums und des neuen deutschen Selbstbewusstseins abzugeben hat.

Und die andere Oppositionspartei im neuen Bundestag, Die Linke? Deren Vorsitzender Jan van Aken argumentiert, er sehe schon jetzt genügend Geld in die Verteidigung Europas fließen und diese damit gut gegen Russland gesichert. Aber nicht nur er begründet seine Opposition gegen die Regierung mit der Affirmation, die deutschen Ansprüche in der Welt zu verteidigen. Sein Parteigenosse Gregor Gysi formuliert es so: "Ich wünsche mir eine Regierung, die sich darüber im Klaren ist, dass sie einen freien, unabhängigen, souveränen und demokratischen Staat vertritt – einen Staat, der durchaus das Recht hat, eigene Ziele zu formulieren und auch im Ausland dafür einzutreten."

Das ist also das linke Politikangebot: ebenfalls ein Deutschland, das sich keiner Supermacht mehr zu beugen hat und seine ausgreifenden Ansprüche entsprechend ohne störende Relativierung exekutieren kann. Womit sich die Linke in den Augen der anderen Parteien einstweilen immer noch als regierungsuntauglich erweist, liegt darin begründet, dass sie meint, diese "eigenen Ziele im Ausland" könne Deutschland ernsthaft durchsetzen, ohne sich entsprechend militärisch von den USA zu emanzipieren. Das mag dafür ausreichen, in einer Wahl viele Stimmen zu gewinnen, die Zweifel an der Notwendigkeit eines Krieges zur Verteidigung der deutschen Interessen haben. Ein Einspruch gegen den brutalen Inhalt von "staatlicher Selbstverteidigung" nicht nur dieser Nation ist es nicht.

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8 Kommentare verfügbar

  • gerhard manthey
    am 21.03.2025
    Antworten
    "Menschen als Material" in der Bildunterzeile des Soldatenfriedhofs ist schöngefärbt:
    Es ist die Kriegspolitik, die der Deutsche Reichstag beschlossen hatte -und wir werden im Falle eines Friedens bald die Bilder der Gräber in der Ost- und Westukraine und in Russland sehen und wenn Frau von der…
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