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Stuttgart 21

Licht im Schacht

Stuttgart 21: Licht im Schacht
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Auf der Riesenbaustelle der unterdimensionierten Tunnelhaltestelle Stuttgart 21 wurde das erste Lichtauge entpackt. Ein mystisches Happening, an dessen Ende Tageslicht in die Halle fiel. Die Welt wird nun nicht mehr die gleiche sein.

Die Vernunft, ach, sie ist bei der Suche nach wahrer Freude, nach Erfüllung, nach Glück allzu oft ein lästiger Wadenbeißer, eine nörgelnde, erbsenzählende Gouvernante. Braucht's das? Wie teuer wird das? Bringt das Vorteile? Wie ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis? Hätte sich der ägyptische Pharao Ramses II. von solchen Fragen leiten lassen, wäre vermutlich nie der Tempel von Abu Simbel entstanden, den die UNESCO 1979, etwa 3.200 Jahre nach Erbauung, auf die Welterbeliste gesetzt hat. Nimm das, Gouvernante!

In ganz so großen Maßstäben denken die Macher von Stuttgart 21 nicht. 100 Jahre solle der Bahnhof wenigstens halten, erklärt am vergangenen Dienstag Projektleiter Olaf Drescher auf der S-21-Baustelle, "da bringt es nichts, wenn sie jeden Tag Fenster putzen." Deswegen hätten die Scheiben der berühmten Lichtaugen des berühmten zukünftigen Tunnelbahnhofs auch eine selbstreinigende Funktion. Wie genau das funktioniert, geht leider im allgemeinen Baustellenlärm unter. Hier Pressluftbohrer, drrr, drrr, drrr, dort ein Zisch!, da ein Zong!, da hat die menschliche Stimme kaum eine Chance. Aber wozu auch immer alles akustisch verstehen müssen. Man hört nur mit dem Herzen gut, das sagte doch schon dieser kleine Prinz, oder war es André Rieu, egal, dieser Termin ist etwas fürs Herz. Für die Seele. Und von der Seele, genauer der Seele Group GmbH, einer international aktiven Unternehmensgruppe, die auf Fassadenkonstruktionen und Gebäudehüllen spezialisiert ist. Und die berühmten Lichtaugen angefertigt hat.

Doll.

Mitten ins Herz zielt schon die Einladung: "Tageslicht im künftigen Stuttgarter Hauptbahnhof". Vorfreude, der Puls beschleunigt sich. "Mit Hochdruck" arbeite die Deutsche Bahn an den "27 markanten Lichtaugen des Bahnhofs". Und die können was, die Lichtaugen. "Durch die Stahl-Glas-Konstruktion, die die einzigartigen Kelchstützen nach oben hin abschließt, wird sich Tageslicht gleichmäßig in der neuen Bahnsteighalle verteilen. Ein erster Eindruck  davon entsteht, wenn das für den Einbau eines Lichtauges notwendige Montagenetz samt Schutzplane entfernt wird." Und jetzt kommt's: "Sie haben am Dienstag … die Möglichkeit, von 10 Uhr an dabei zu sein, wenn das Montageteam Netz und Plane einholt und dann durch ein fertiges Lichtauge Tageslicht in die Bahnsteighalle fällt." Licht. In die Halle. Tageslicht. Doll.

Knapp 20 auserwählte, pardon, akkreditierte Journalist:innen kommen und lassen sich von Mitarbeiter:innen des S-21-Projektbüros in die Halle führen. Dreschers Ton angemessen sakral. "Wir haben uns zusammengefunden, um einem Entpackungsvorgang beizuwohnen", sagt der Projektleiter. Entpackungsvorgang, oh. Dann irgendwas von "Blüte auf der Kelchstütze", dann wieder zuviel drrr, drrr, drrr, Zisch und Zong. Drescher hat wie immer dieses versonnene Lächeln, mit dem er jeden Buddha-Ähnlichkeitswettbewerb gewinnen würde.

Dann kommt Andreas Hafner, Geschäftsführer der Seele GmbH. Keiner versteht ihn, drrr, drrr, drrr, Fetzen von "ikonisches Bauvorhaben" und "Leuchtturmprojekt" dringen durch. Und immer wieder: Lichtaugen, Lichtaugen, Lichtaugen.

Hafner übergibt an seinen Oberbauleiter Martin Hillebrand. Zupackender Typ, leuchtende Augen. "Dann sag ich mal meinen Jungs Bescheid, dass sie anfangen können, das Ding runterzulassen, wa", sagt er. Jawoll.

Da hat sich doch was bewegt!

Gut dreißig Augenpaare schauen nach oben. Montagenetz und weiße Schutzplane hängen noch. Warten. Man hört von oben ein lautes Hämmern. Was hat es damit auf sich? Nichts passiert. Mystik.

Zwei, drei, vier, fünf Minuten vergehen. Alle starren nach oben. Da hat sich doch was bewegt. Im Kopf ertönt "Also sprach Zarathustra" von Richard Strauß. Warum lässt das Projektbüro das nicht begleitend laufen? Zong! Drr, drrr, drrr. Ach so.

Wunder brauchen Zeit. Ab und zu sieht man am Rand des Lichtauges Arbeiter huschen. Wunderhelfer. Drrr.

10 Minuten. Alle starren. Nacken werden steif. Am Rand bewegt sich das Netz.

15 Minuten. Hafner erklärt die Komplexität der ungeheuer komplexen Konstruktion. Hillebrand sekundiert, beseelt, mit leuchtenden Augen, erzählt von den elektrisch verstellbaren Lamellenfenstern. Hafner: "Ein total ausgeklügeltes Konzept." Großartig. Wozu braucht es schon einen ausreichend dimensionierten Bahnhof, wozu durch ihn fahrende Züge, wenn es elektrisch verstellbare Lamellenfenster gibt. Deutsche Ingenieurskunst. Und sobald ein Lichtauge fertig sei, gehe es schon mit der Wartung los, ergänzt Hafner. Phantastisch.

20 Minuten. So langsam scheint es heller zu werden.

Hach. Tränen.

Hafner erzählt irgendwas von einem "Erfolg für die Seele-Gruppe", sagt, "wir wollen am Schluss einen Wartungsvertrag für uns, wir wollen immer an unserem Bauwerk dran sein." Unser Bauwerk! Hach. Tränen. Drrr. Zisch!

25 Minuten. Auf einmal sackt ein Teil der Plane nach unten. Alle halten die Luft an. Sonne dringt herein. Licht. Zong!

30 Minuten. In Gedanken nochmal Zarathustra. 35 Minuten. Dann fällt die Restplane nach unten. Die Leute vom Projektbüro klatschen. Die Journalist:innen haben steife Hälse. Aber was macht das schon, wenn man das Licht sieht. Sonnenlicht. Sonnenwunder!

Das Sonnenwunder von Abu Simbel tritt übrigens nur zweimal im Jahr auf. Dann beleuchten die durch den Tempeleingang eindringenden morgendlichen Sonnenstrahlen 20 Minuten lang drei Götterstatuen im Inneren des Tempels. Mit elektrisch betriebenen Lamellenfenstern hätte das womöglich optimiert werden können.

Durchs Lichtauge sieht man hellgraue Wolken. Ob das Licht auch mal auf einen hier Verspätung anhäufenden Zug fallen wird? Ob hier je ein Zug fahren wird? Ach, Zweifel und Vernunft, weichet. Drrr, drrr, drrr. Zisch. Zong.

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16 Kommentare verfügbar

  • Jupp
    am 04.07.2024
    Antworten
    Oh, hier ist mal wieder Treff der Weltuntergangspropheten.

    Wollen wir mal wieder auf die Trefferquote schauen.

    Das Mineralwasser wird großen Schaden nehmen. Die Heilbäder werden schließen.

    Der Fernsehturm wird durch den darunter verlaufenden Filderturm kippen.

    Sämtliche Parkbäume…
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