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Mobilitätspass BW

Kaputtreden statt investieren

Mobilitätspass BW: Kaputtreden statt investieren
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Mit einem Gesetz für den Mobilitätspass will Verkehrsminister Winfried Hermann (Grüne) den Kommunen ermöglichen, Geld einzunehmen. Für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs. Sofort und als erste nörgeln die Wirtschaftsverbände.

Grünen-Bashing ist der neue Volkssport, wiewohl viele Pläne und Entscheidungen doch den Aufräumarbeiten nach dem klimapolitischen Nichtstun der Vorgängerregierungen geschuldet sind. Im vorliegenden Fall geht es jedoch um eine CDU-Erfindung mit Patina. Ein Modell, Autofahrer:innen zuerst zur Kasse zu bitten und dann zum Umstieg auf Bus und Straßenbahn zu motivieren, stammt von Lothar Späth. Für die Jüngeren: Der CDU-Politiker war Baden-Württembergs Ministerpräsident von 1978 bis 1991 und ließ Fachleute die Idee untersuchen, in Ballungsräumen wohnende Fahrzeughalter:innen per Abgabe für den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs so lange zur Kasse zu bitten, bis die eine Zeitkarte für Busse und Straßenbahnen erstehen. Unvorstellbar nach heutigen Maßstäben, wie ernsthaft darüber diskutiert wurde. Kein Schaum vor dem Mund, keine billige Abwehr, keine Hetzkampagnen.

Am Ende kam Späth und den Seinen, ebenso wie der CDU-Nachfolgeregierung unter Erwin Teufel, dann leider doch die Courage abhanden. Vier Jahrzehnte danach fehlt es an viel mehr: an der Bereitschaft, sich zuerst der Realität zu stellen, sich erst einmal einzulassen auf detaillierte Informationen, konkret zum Modellprojekt Mobilitätspass in 21 Kommunen, und erst dann zu lobbyieren im eigenen politischen oder im Interesse der eigenen Verbandsmitglieder.

Millionen für Kommunen

Zwei Jahre lang hat nun das Verkehrsministerium die Potenziale eines Mobilitätspasses für 21 Modellkommunen untersucht und berechnet. Vier Varianten wurden entwickelt. Dazu zählt eine Maut, die Städte und Gemeinden vom einfahrenden Individualverkehr überall außer auf Bundesstraßen einziehen könnten. Oder es könnten alle Autofahrer:innen oder die Einwohnerschaft insgesamt belastet werden, etwa mit zusätzlichen Ausgaben in Höhe von zwei oder drei Halben Bier im Monat. Oder die Arbeitgeber:innen müssten – wie in Frankreich und in Wien seit Anfang der 1970er-Jahre – pro Arbeitnehmer:in eine Abgabe leisten. In der österreichischen Bundeshauptstadt mit ihrem Zwei-Minuten-Takt zu Stoßzeiten liegt die gegenwärtig bei allwöchentlich zwei Euro pro Beschäftigtem.

Allesamt überlegenswerte Vorschläge, an denen Fachleute, Kommunalos, Oberbürgermeister und Landräte mitgearbeitet haben. Der Freiburger Oberbürgermeister Martin Horn (parteilos) nennt seine Stadt "ÖPNV-verliebt", hat aber zu wenig Geld zum dringend gewünschten weiteren Ausbau und drängt Grün-Schwarz, das Versprechen aus dem Koalitionsvertrag 2021 zu erfüllen und Kommunen zu ermöglichen, den Mobilitätspass einzuführen, wie die alte CDU-Nahverkehrsabgabe heute heißt. Der Präsident des Städtetags Baden-Württemberg und Karlsruher OB Frank Mentrup (SPD) will offen und im Wissen, dass noch viel Überzeugungskraft vonnöten sein wird, mit den Arbeitgeber:innen eine Lösung ausverhandeln: Nach Karlsruhe pendeln täglich 100.000 Autofahrer:innen ein und aus Karlsruhe 46.000 aus ins Umland. Der Ausbau des ohnehin landesweit beispielhaften Angebots wird viele hundert Millionen Euro verschlingen. "Wir wollen", erinnert Hermann, "gemeinsam bis 2030 die Verkehrswende schaffen, weil die Klimaziele sonst nicht zu erreichen sind."

Hauptsache dagegen sein

Natürlich haben Letztere in den Sonntagsreden von Verbandsvertreter:innen ihren Stammplatz. In der Praxis aber ist es kein Witz, sondern fade Wirklichkeit, dass Peter Haas, der Hauptgeschäftsführer von Handwerk BW, noch ehe die fast 50 Seiten starke Analyse der vier verschiedenen Varianten verschickt ist oder online steht, sein abfälliges Urteil schon in die Welt posaunt: Der Mobilitätspass wirke "kontraproduktiv". Auch Axel Nitschke, Hauptgeschäftsführer der IHK Rhein-Neckar, im Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertag (BWIHK) für Verkehrsfragen federführend verantwortlich, ist sich nicht zu schade, ohne auf lästige Einzelheiten einzugehen, "unkalkulierbare Risiken" zu beklagen. Die Unternehmer BW lassen sich ebenso nicht lumpen. Einen "unübersichtlichen Flickenteppich" befürchtet Hauptgeschäftsführer Oliver Barta, der kommunalen und regionalen Wahlfreiheit wegen. Viel Phantasie braucht es nicht, sich vorzustellen, was passieren würde, wenn Hermann genau diese Wahlfreiheit nicht einräumt: Ganz gewiss würde wortreich mal wieder die Bevormundungskeule geschwungen und der Verkehrsminister stünde erst recht am Pranger.

Aber der Grüne ist nicht nur Kummer und Sorgen gewohnt, sondern er hat viel Erfahrung gesammelt in seinem langen Politikerleben. Fast flehentlich appellierte er, zu bedenken, dass die Koalition Kreisen und Kommunen nichts vorschreiben, sondern lediglich "einen schlanken unbürokratischen rechtlichen Rahmen" schaffen will. Und dass schon ein überschaubarer Betrag, eben jener Gegenwert von zwei oder drei Halben, Millionenbeträge und damit "relevante Beiträge zur Verbesserung der Angebote bringt".

Ob er schlussendlich nach so vielen Jahren durchdringt, hängt weniger an den Schwarzen, die sich wie in allen Klimafragen trotz der Unterschriften im Koalitionsvertrag vom Acker machen und mit wachsweichen Formulierungen wegschwurbeln wollen. Sondern an seinen Grünen. Die Spitze der Landtagsfraktion schweigt, wie so oft, wenn es eng werden könnte. Noch im ersten Halbjahr 2024 will Hermann den Gesetzentwurf auf den Weg bringen. Der wird nur dann erfolgreich sein, wenn der Parteifreund Winfried Kretschmann die Kraft aufbringt, seinen Verkehrsminister gegen alle Widerstände zu unterstützen. Als damals die CDU nicht weiterkam, wusste der heutige Ministerpräsident jedenfalls ganz genau, woran das lag: "Am fehlenden Mut, vom Notwendigen nicht nur zu reden."

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