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Proteste in Frankreich

König ohne Volk

Proteste in Frankreich: König ohne Volk
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Frankreichs Regierung wollte das Rentensystem reformieren. Um jeden Preis. Doch mit dem unerbittlichen Vorgehen über die Köpfe der Streikenden hinweg und der beunruhigenden Zunahme von Gewalt riskiert Präsident Emmanuel Macron, die Krise der Demokratie zu verschärfen.

Sie sind viele. Noch immer. Und sie sind wütend, angriffslustig und außergewöhnlich ausdauernd. In dieser Woche findet in Frankreich der nunmehr zehnte landesweite Streik- und Aktionstag gegen die Rentenreform von Präsident Emmanuel Macron statt, aber von Ermüdungserscheinungen keine Spur. Im Gegenteil: Weil die meisten Prüfungen an den Schulen und Universitäten vorbei sind, hat sich die Straße inzwischen verjüngt. So sieht man nicht nur streikerprobte Gewerkschafter:innen, Angestellte des öffentlichen Dienstes oder Familien, sondern eben auch Studierende und Schüler:innen, selbst von den sonst zurückhaltenden, konservativ geprägten Wirtschaftsfakultäten. Ein Hauch von Jugendbewegung à la 68 greift um sich, und dazu passend steht auf vielen Schildern: "Manu, tu nous mets 64, on te met Mai 68" (Du drückst uns die 64 auf, wir Dir den Mai 68).

Dabei hatte Emmanuel Macron gehofft, er könne nach Annahme der Rentenreform durch den umstrittenen Verfassungsartikel 49.3., also ohne Abstimmung durch das Parlament, schnell zum Tagesgeschäft übergehen. Mitte letzter Woche wurde er in einem TV-Interview gefragt, ob er in dem ganzen Streit um die Rente irgendetwas bereue, ob er etwas falsch gemacht habe. Die Antwort, typisch Macron: "Ich lebe nicht in Reue, sondern mit Willen, Hartnäckigkeit und Pflichtbewusstsein." Er bereue nur, nicht überzeugend genug die Notwendigkeit der Reform vermittelt zu haben. Anders gesagt: Ihr rafft nicht, dass es nicht anders geht! Um jeden Preis will er den Nimbus des Reformers zu seinem politischen Erbe machen. Allen Widerständen zum Trotz. Und sei es gegen die uneinsichtige Bevölkerung, gegen die "störrischen Gallier", wie er sie einst bezeichnete. Noch immer ist die Mehrheit von ihnen gegen die Reform, und laut Umfragen wünschen sich 40 Prozent, dass die Protestbewegung noch stärker wird.

Vielleicht mag es tatsächlich von außen betrachtet so scheinen, als seien die reformresistenten Franzosen und Französinnen zu verwöhnt, zu träge oder zu verblendet, um der Wahrheit ins Auge blicken zu wollen. Einer Wahrheit, die in einem neoliberal organisierten Wirtschaftssystem wohl oder übel auf sie zukommen würde: die Notwendigkeit länger zu arbeiten, um die Rentenkassen nicht zu überlasten. Doch was sich in Frankreich dieser Tage wieder einmal abspielt, ist so grundlegend, dass es uns alle betrifft. Im Mutterland des Dreiklangs Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit, im Land der universellen Menschenrechte herrscht schon immer ein besonderes Bewusstsein für die hart erkämpften sozialen Errungenschaften.

Schwaches Parlament, starke Straße

Es wäre zwar naiv zu glauben, die französische Gesellschaft habe die Losungen der Revolution von 1789 mit ihren unantastbaren Pariser Eliten jemals tatsächlich umgesetzt. Auch hier gibt es eine unübersehbare Kluft zwischen Arm und Reich. Aber immerhin bringen die Menschen radikaler als andernorts ihr Unwohlsein gegen die Logik einer Marktwirtschaft zum Ausdruck, die sich immer weniger mit dem Adjektiv "sozial" beschreiben lässt.

So darf man den Protest in Frankreich nicht nur auf den Ärger über zwei weitere Jahre auf dem Arbeitsmarkt zurückführen. Vielmehr geht es darum, dass die ärmsten Teile der Bevölkerung eine Mehrbelastung zugewiesen bekommen und gleichzeitig hart erkämpfte Rechte beschnitten werden: zum Beispiel Kündigungsschutz, Arbeitslosen- oder eben Altersbezüge. Und noch eines wird immer wieder betont: Gemessen an den Herausforderungen dieser Tage ist das prognostizierte Loch in den Rentenkassen (angeblich 13 Milliarden Euro bis 2030) ein relativ kleines Problem. So unterstrich der bekannte französische Wirtschaftswissenschaftler Jacques Attali bei einer TV-Debatte: "Unserem Bildungssystem geht es schlecht, unser Gesundheitssystem ist eine Katastrophe, die Klimakrise drängt, der öffentlichem Dienst liegt am Boden, die Institutionen müssten reformiert werden." Kurzum: Macron hat die Rente zur Gretchenfrage erhoben, obwohl sie eigentlich nur ein Nebenschauplatz ist, eine kleine Baustelle im riesigen Reformstau.

Dazu kommt die Methode. Macron steckt in einem Dilemma: Wenn er Reformen im Parlament nicht durchbekommt, wirft man ihm Schwäche vor. Genauso schwach wirkt er jedoch jetzt, weil er wieder ein 49-3-Gesetz macht, also den Artikel der Verfassung heranzieht, der es einer Regierung erlaubt, an der Nationalversammlung vorbei unliebsame Gesetze zu beschließen. Seit den herben Verlusten bei den letzten Parlamentswahlen, bei denen Macron keine eigene Mehrheit erlangen konnte, griff die Regierung immer wieder auf diesen umstrittenen Verfassungstrick zurück. Kritiker:innen sehen darin ein Zeichen einer tiefgreifenden Demokratiekrise, deren Ursachen schon Jahrzehnte zurückliegen und die bislang trotz vieler Versprechen nicht behoben werden konnte. Denn bei Gründung der Fünften Republik 1958 wurde das Parlament auf Drängen Charles de Gaulles bewusst zugunsten der Regierung und des Präsidenten geschwächt. Wegen der schwachen Institutionen werden große gesellschaftliche Auseinandersetzungen häufig auf die Straße getragen.

In Zukunft wird es nicht gemütlicher

Nach dem Blick in die politische Kristallkugel gibt es immer mehr Stimmen, die einen noch bedeutenderen Aufstand in einigen Monaten prophezeien. Ein Revival der Gelbwestenbewegung, unter anderem Namen womöglich? Der Soziologe Karel Yon formuliert gegenüber "Le Monde" folgende Prognose: "Eine solch langanhaltende und intensive politische Protestbewegung stellt eine Hochphase dar, durch die das Engagement wachsen kann." Er spricht von einer möglichen Wiederbelebung von gewerkschaftlichem Engagement, von einer Politisierung der Individuen. In jedem Fall aber werde die Bewegung Spuren hinterlassen: einerseits mehr Zulauf zu den Gewerkschaften, andererseits auch zu politischer Enttäuschung, zu Wahlenthaltungen oder zum Wachsen der politischen Ränder.

Dass die Regierung im Falle der aktuellen Rentenreform die Gewerkschaften so vehement ausgeschlossen und den Dialog verweigert hat, schockiert auch deshalb, weil Macron vor Jahren versprochen hatte, Politik für andere Akteur:innen zu öffnen, weil er es anders machen wollte. Doch stattdessen erleben wir, wie radikal von oben herab durchregiert wird. Es scheint nahezu so, als habe die große Mobilisierung der vergangenen Wochen die Regierung überrascht. Dabei ist die Stimmung gegen Macron schon in seiner ersten Amtszeit gekippt. Wiedergewählt wurde er von vielen nicht aus Zuneigung, sondern aus Angst vor einer Präsidentin Le Pen.

Die Wut gegen diese Regierung und der Hass auf Macron sind also weit mehr als die in Frankreich durchaus existierende Streik-Folklore. Es liegt in diesen Tagen tatsächlich ein Hauch Revolte über dem Land. Protesterfahrene schwärmen vom breiten Spektrum der Teilnehmenden an den Demonstrationen: über Berufsgruppen und Generationen hinweg. Aber auch die Gewalt ist zurück auf Frankreichs Straßen. Nacht für Nacht spielen sich Szenen wie aus einem Guerillakrieg ab. Es brennen Puppen mit Macron-Konterfei, Müllberge, Polizeiautos und Geschäfte. Allabendlich wird im französischen Fernsehen debattiert, und die wichtigsten Beobachter:innen schreiben sich die Finger wund. Was nun, Monsieur Le Président?

Ein starker, ein zupackender Präsident, der Macron so unbedingt sein wollte, müsste versuchen zu beschwichtigen, Angebote auf den Tisch legen, wieder mit den Gewerkschaften reden, auf die Gegner zugehen, die Polizeigewalt eindämmen, vor allem aber die jungen Leute ansprechen und ihnen Perspektiven geben, die mehr als hohle Floskeln sind. Von all dem ist bislang nichts zu sehen. Stattdessen wirkte der "König" selten so weit entfernt und verhasst von seinem Volke wie in diesen Tagen.


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