KONTEXT:Wochenzeitung
KONTEXT:Wochenzeitung

Grundgesetz und Corona

Krise ja, aber kein Ausnahmezustand

Grundgesetz und Corona: Krise ja, aber kein Ausnahmezustand
|

Datum:

Der Moralist aus München, Heribert Prantl, sieht das Grundgesetz in Quarantäne. Die Republik befinde sich in einem Ausnahmezustand, in dem unsere Freiheitsrechte außer Kraft gesetzt würden, sagt er. Und gerät damit in eine fatale Nähe zu den "Querdenkern"?

"Not und Gebot": So betitelt Heribert Prantl die chronologisch angeordnete und dadurch tagebuchartig anmutende Sammlung seiner Kolumnen zur Corona-Krise aus der "Süddeutschen Zeitung". Und ich bin sicherlich nicht der einzige, der  sofort an den alten Spruch erinnert wird: "Not kennt kein Gebot." Dass also in Zeiten der Not jedes Mittel verwendet werden dürfe, wenn von ihm erhofft werden kann, auch wenn es noch so problematisch ist, dass es "die Not wende". Dasselbe in einem anderen Spruch formuliert: "Der Zweck heiligt die Mittel." Ist es also in der Krise der Pandemie, ist es als Mittel für den Zweck, die Not der Pandemie zu wenden, gerechtfertigt, "Grundrechte in Quarantäne" (so der Untertitel des Buches), außer Kraft und Vollzug zu setzen?

Für Prantl jedenfalls steht fest, dass dieses Mittel nicht gerechtfertigt ist. "Es gilt heute, die Freiheit gegen das Coronavirus zu verteidigen. Die Verteidigung besteht heute darin, die Grundrechte zu schützen – zu schützen davor, dass das Virus und die Maßnahmen gegen das Virus von den Grundrechten nur noch die Hülle übriglassen." Und wohl angetrieben durch den hohen Ton moralischer Empörung, der die Grundstimmung der ganzen Textsammlung abgibt, versteigt Prantl sich zu der Behauptung: "Grundgesetz im Wortsinn war und ist in Coronien nicht das Grundgesetz, sondern das Infektionsschutzgesetz. Das Infektionsschutzgesetz ist das Gesetz, welches das gesamte öffentliche und private Leben in Corona-Zeiten begleitet, bestimmt und zwangsläufig behindert." Meine Güte – aber das ist doch blanker Unsinn!

Ich bestreite gar nicht, dass das Infektionsschutzgesetz – nur zur Erinnerung: es wurde am 20. Juli 2000 vom Bundestag verabschiedet, dann 2020 drei Mal geändert und soll jetzt mit neuen, bundeseinheitlich geltenden Regeln weiter präzisiert und verschärft werden – die Grundlage all der Maßnahmen und Verordnungen ist, die zu "beispiellosen Freiheitsbeschränkungen und schwersten Eingriffen in der Geschichte der Bundesrepublik" geführt haben. Prantl unterfüttert das "Beispiellose" dieser "Freiheitsbeschränkungen" mit den Besuchs- und persönlichen Kontaktverboten von Angehörigen in Altenheimen und Sterbenden auf den Intensivstationen. Dies sei eine Missachtung der Menschenwürde, die in Artikel 1 des Grundgesetzes als "unantastbar" bestimmt ist. "Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."

Ja, ich bin wie Heribert Prantl froh, dass meine Eltern die Corona-Krise nicht mehr erleben mussten. "Die Vorstellung, die Mutter im Altersheim nicht besuchen zu dürfen, die Vorstellung, dass sie verzweifelt wartet und in der Einsamkeit an Einsamkeit stirbt – die bloße Vorstellung treibt mich um."  Unbestreitbar eine moralische Herausforderung, ein moralisches Dilemma: Soll man trotz Pandemie und Infektionsrisiko das Besuchsrecht von Angehörigen zu erzwingen versuchen? Oder ist es moralisch geboten, wegen Pandemie und Infektionsrisiko den persönlichen Kontakt zu unterlassen?

Prantls moralische Empörung angesichts der empfundenen Verletzung der Würde des Menschen schlägt um in einen hochproblematischen Moralismus. Denn er unterstellt denjenigen, die auf Besuche ihrer Angehörigen verzichten, schlichtweg "Heuchelei": "Die meisten Menschen haben nicht aus Solidarität mit den Alten und Kranken ihr Alltagsverhalten geändert, sondern aus Eigennutz – nicht so sehr aus Angst, zu infizieren, sondern aus Angst, infiziert zu werden."  Für eine solche äußerst schwerwiegende Unterstellung und moralische Diskriminierung gibt Prantl keinerlei Belege, lässt sie als bloße Behauptung, eine Verdächtigung im Raum stehen.

Moralismus ist keine Politik

Ich könnte jetzt kontern und sagen, solche Behauptungen und Verdächtigungen angesichts eines moralischen Dilemmas sind typisch für den Moralismus und Tugendterror eines Rousseau und Robespierre; und die Hinweise auf "Entfremdung" durch oder infolge von Corona durchziehen die Überlegungen Prantls. "Corona ist die Geschichte einer Entfremdung, einer Entheimatung", die Entfremdung von "bisherigen Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten". Wichtiger ist aber der Hinweis, dass das moralische Dilemma noch viel komplexer ist: Denn wie steht es mit der Würde des Pflegepersonals? Der medizinischen Fachkräfte? Wird deren Würde nicht ebenfalls missachtet und verletzt, wenn jemand ohne Rücksicht auf Infektionsrisiken den Besuch seiner Angehörigen erzwingt? Gerate ich nicht in eine Zwickmühle, in der jede meiner Handlungen die Würde des Menschen verletzt?  Dass Prantl an anderen Stellen seines Buches völlig richtig die Arbeits- und Entlohnungsverhältnisse in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern problematisiert, und die schon lang vor der Pandemie durchgesetzte Privatisierung und Kosteneinsparungen kritisiert, macht deutlich, wie verkürzend und in seinen Konsequenzen fatal der moralistische Blick auf moralische Problemlagen wirkt.

Dass jemand mit einer hochinfektiösen Krankheit in einer Isolierstation behandelt wird mit Kontakteinschränkung oder sogar Kontaktverbot, also gravierenden Einschränkungen der persönlichen Freiheit, ist eine – um Prantls Terminologie aufzugreifen – Selbstverständlichkeit. Dass Gesundheitsminister Jens Spahn und der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, zu Beginn der Pandemie Corona diese mit Influenza verglichen haben, war insofern ein katastrophaler Fehler, weil bezüglich Corona weder die Infektiosität noch die Übertragungswege genau bekannt waren und es keine Behandlungsroutinen und Medikamente gegeben hat. Nachdem es gegen die Erwartung des Bundesgesundheitsministers doch zu einem pandemischen Verlauf in Deutschland gekommen ist, waren die ersten Maßnahmen einschließlich des ersten Lockdowns zwar in panischer Hektik, aber doch hinsichtlich des Eindämmungsversuchs gerechtfertigt erlassen worden.

Blöd: "Querdenker" mögen Prantl

Doch ist es dann wirklich richtig, von einem "Ausnahmezustand" zu sprechen, in dem Grundrechte, insbesondere "die Freiheit" außer Kraft gesetzt wurden? "Der Ausnahmezustand lugte nicht mehr nur um die Ecke, er war da. Und es herrschte eine allgemeine Stille, auch darüber." Prantl spürt selbst, dass er mit der Art und Weise, wie er "die Freiheit" beschwört, in fatale Nähe zu den "Querdenken"-Demonstrationen gerät, mit denen und deren Parolen er aber nichts zu tun haben möchte. (Nicht von ungefähr zitierte Initiator Michael Ballweg den Münchner Publizisten bei der letzten "Querdenken"-Demonstration auf dem Cannstatter Wasen ausführlichst).

In einer merkwürdig verqueren Formulierung umschreibt Prantl das eigentliche politische Problem – ohne es als nur politisch zu lösendes Problem zu erfassen. "Es wurde eine Stimmung geschaffen, in der sich Menschenrechte und Menschenleben gegenüberstehen und die amtlich verordnete Aussetzung von Menschen- und Bürgerrechten als Preis für die Rettung von Menschenleben gilt." Wer oder was ist dieses "es", das eine solche Stimmung geschaffen hat? Und zu welchem Zweck? Und überhaupt: Wie verhält sich eine solche "Stimmung" zu den Bestimmungen des Grundgesetzes?

Der Grundgesetz-Artikel 2 [Freiheitsrechte] lautet:

1. Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

2. Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.

In die Freiheitsrechte darf eingegriffen werden durch ein Gesetz. Gesetze zu formulieren und darüber abzustimmen ist die grundlegende Aufgabe der Legislative, des Parlamentes. Und weil es um einen Eingriff in die Grundrechte geht, muss ein solches Gesetz mit mindestens einer Zweidrittel-Mehrheit verabschiedet werden. Das Infektionsschutzgesetz ist nun genau ein solches in die Freiheitsrechte eingreifendes Gesetz. Insofern bewegen sich die über das Infektionsschutzgesetz bestimmten Maßnahmen im Rahmen des Grundgesetzes. Der Haken: So wie bisher die Veränderungen dieses Gesetzes eingeführt wurden und die neue Änderung geplant ist, liegt die Gesetzesinitiative und die Gesetzesformulierung bei der Exekutive, also dem Kanzleramt und den MinisterpräsidentInnen. Genau gegen eine solche, schon lange vor der Corona-Krise zu konstatierende Verschiebung hin zur Exekutive, ist es unsere Pflicht, als BürgerInnen zu protestieren und die Wiederermächtigung der Parlamente einzufordern. Denn sonst drohen die Fundamente unserer Grundrechtsordnung sich so zu verändern – und Merkels Formulierung einer "marktkonformen Demokratie" zeigt ja deutlich die Richtung dieser Veränderung an –, dass von einer liberalen Demokratie nicht mehr gesprochen werden kann.

Niemand kann als Einzelner frei sein

Absatz 1 und 2 beinhalten beachtenswerte gegenläufige Bestimmungen. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das individuelle Freiheitsrecht ist eben genau kein uneingeschränktes Recht auf Willkür-Freiheit des Einzelnen, sondern als Recht nur verwirklichbar in Beachtung der Rechte aller anderen Personen. Pointiert formuliert: Niemand kann als Einzelner frei sein – der Versuch der Verwirklichung der Willkür-Freiheit aller Einzelnen in ihrer Einzelheit wäre die Herstellung des Hobbesschen Naturzustandes als Kampf aller gegen alle, als Kampf auf Leben und Tod. Oder wie es zynisch und menschenverachtend auf dem AfD-Parteitag in einer Resolution am 10. April 2021 beschlossen wurde: Den "staatlich verordneten Lockdown sofort zu beenden", den Betrieben, deren Beschäftigten und allen Menschen "wieder ihre grundgesetzlich garantierten Freiheitsrechte allumfassend zurückzugeben". Es solle den "mündigen Bürgern überlassen bleiben, in welchem Maße sie sich selbst schützen möchten". Und sollte ein solcher mündiger Bürger einen anderen mündigen Bürger anstecken, dann, nun ja, wird das wohl als Kollateralschaden abgetan.

Nur wir zusammen als Bürger und Bürgerinnen unseres Gemeinwesens können frei sei. Und nur in der politischen Entwicklung einer solchen gemeinsamen Freiheitsperspektive können wir sowohl der neoliberalen uneingeschränkt individual- und privatrechtlich ausgestalteten Politik wie auch der rechtsradikalen und rechtsextremen Politik entgegenarbeiten.

Satz 1 von Absatz 2 formuliert die Pflichten, die wir als BürgerInnen gegenüber anderen BürgerInnen haben wie auch die grundlegende Funktionsbestimmung staatlicher Institutionen: Die Pflicht, das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu gewährleisten. Damit ist genau nicht gemeint, wie es die liberale Tradition suggeriert, Sicherheit herzustellen, um dann in Freiheit als BürgerIn leben zu können, sondern gemeint ist die Gemeinwohlorientierung bürgerschaftlichen und staatlichen Handelns. Dass diesbezüglich sowohl auf der bürgerschaftlichen wie auf der staatlichen Seite gravierende Defizite bestehen, denen wir uns politisch stellen müssen, um unser Gemeinwesen weiterzuentwickeln in Richtung gemeinsamer Freiheit, dürfte wohl unübersehbar sein – gerade auch durch und in der Corona-Krise.

In der grundgesetzlichen Ordnung Deutschlands sind die Bürgerinnen und Bürger die Souveräne, repräsentiert in der Zusammensetzung der Parlamente; oder mit der Formulierung von Jürgen Habermas: Wir sind zugleich und ineins die AutorInnen und AdressatInnen des Grundgesetzes. Und gerade in der Corona-Krise – ich betone: Krise. Es ist kein Ausnahmezustand! – sollten wir endlich wieder in diesem Sinne politisch handeln und jetzt und sofort die Re-Parlamentarisierung der Entscheidungsprozesse fordern! Und mit diesem ersten Schritt die notwendige Debatte der Gemeinwohlorientierung bürgerschaftlichen und staatlichen Handelns beginnen. Denn die Corona-Krise mit ihren politischen Folgen ist doch nur ein Teilmoment der übergreifenden und unser Gemeinwesen noch herausfordernden Klimakrise.


Gefällt Ihnen dieser Artikel?
Unterstützen Sie KONTEXT!
KONTEXT unterstützen!

Verbreiten Sie unseren Artikel
Artikel drucken


9 Kommentare verfügbar

  • Peter Pascht
    am 10.05.2021
    Antworten
    "Not kennt kein Gebot" ist einfach nur stammtischmäßiger populistischer Unsinn, der vom Grundgesetz verboten ist, wie der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages in seinem Gutachten von 2015 fetstellt, AKtenzeichen: WD 3 - 3000 - 301/15.
    Einen "Überverfassungsrechtlicher Notstand" gibt es nicht,…
Kommentare anzeigen  

Neuen Kommentar schreiben

KONTEXT per E-Mail

Durch diese Anmeldung erhalten Sie regelmäßig immer Mittwoch morgens unsere neueste Ausgabe unkompliziert per E-Mail.

Letzte Kommentare:






Die KONTEXT:Wochenzeitung lebt vor allem von den kleinen und großen Spenden ihrer Leserinnen und Leser.
Unterstützen Sie KONTEXT jetzt!