Ich bestreite gar nicht, dass das Infektionsschutzgesetz – nur zur Erinnerung: es wurde am 20. Juli 2000 vom Bundestag verabschiedet, dann 2020 drei Mal geändert und soll jetzt mit neuen, bundeseinheitlich geltenden Regeln weiter präzisiert und verschärft werden – die Grundlage all der Maßnahmen und Verordnungen ist, die zu "beispiellosen Freiheitsbeschränkungen und schwersten Eingriffen in der Geschichte der Bundesrepublik" geführt haben. Prantl unterfüttert das "Beispiellose" dieser "Freiheitsbeschränkungen" mit den Besuchs- und persönlichen Kontaktverboten von Angehörigen in Altenheimen und Sterbenden auf den Intensivstationen. Dies sei eine Missachtung der Menschenwürde, die in Artikel 1 des Grundgesetzes als "unantastbar" bestimmt ist. "Sie zu achten und zu schützen, ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt."
Ja, ich bin wie Heribert Prantl froh, dass meine Eltern die Corona-Krise nicht mehr erleben mussten. "Die Vorstellung, die Mutter im Altersheim nicht besuchen zu dürfen, die Vorstellung, dass sie verzweifelt wartet und in der Einsamkeit an Einsamkeit stirbt – die bloße Vorstellung treibt mich um." Unbestreitbar eine moralische Herausforderung, ein moralisches Dilemma: Soll man trotz Pandemie und Infektionsrisiko das Besuchsrecht von Angehörigen zu erzwingen versuchen? Oder ist es moralisch geboten, wegen Pandemie und Infektionsrisiko den persönlichen Kontakt zu unterlassen?
Prantls moralische Empörung angesichts der empfundenen Verletzung der Würde des Menschen schlägt um in einen hochproblematischen Moralismus. Denn er unterstellt denjenigen, die auf Besuche ihrer Angehörigen verzichten, schlichtweg "Heuchelei": "Die meisten Menschen haben nicht aus Solidarität mit den Alten und Kranken ihr Alltagsverhalten geändert, sondern aus Eigennutz – nicht so sehr aus Angst, zu infizieren, sondern aus Angst, infiziert zu werden." Für eine solche äußerst schwerwiegende Unterstellung und moralische Diskriminierung gibt Prantl keinerlei Belege, lässt sie als bloße Behauptung, eine Verdächtigung im Raum stehen.
Moralismus ist keine Politik
Ich könnte jetzt kontern und sagen, solche Behauptungen und Verdächtigungen angesichts eines moralischen Dilemmas sind typisch für den Moralismus und Tugendterror eines Rousseau und Robespierre; und die Hinweise auf "Entfremdung" durch oder infolge von Corona durchziehen die Überlegungen Prantls. "Corona ist die Geschichte einer Entfremdung, einer Entheimatung", die Entfremdung von "bisherigen Selbstverständlichkeiten und Gewohnheiten". Wichtiger ist aber der Hinweis, dass das moralische Dilemma noch viel komplexer ist: Denn wie steht es mit der Würde des Pflegepersonals? Der medizinischen Fachkräfte? Wird deren Würde nicht ebenfalls missachtet und verletzt, wenn jemand ohne Rücksicht auf Infektionsrisiken den Besuch seiner Angehörigen erzwingt? Gerate ich nicht in eine Zwickmühle, in der jede meiner Handlungen die Würde des Menschen verletzt? Dass Prantl an anderen Stellen seines Buches völlig richtig die Arbeits- und Entlohnungsverhältnisse in Pflegeeinrichtungen und Krankenhäusern problematisiert, und die schon lang vor der Pandemie durchgesetzte Privatisierung und Kosteneinsparungen kritisiert, macht deutlich, wie verkürzend und in seinen Konsequenzen fatal der moralistische Blick auf moralische Problemlagen wirkt.
Dass jemand mit einer hochinfektiösen Krankheit in einer Isolierstation behandelt wird mit Kontakteinschränkung oder sogar Kontaktverbot, also gravierenden Einschränkungen der persönlichen Freiheit, ist eine – um Prantls Terminologie aufzugreifen – Selbstverständlichkeit. Dass Gesundheitsminister Jens Spahn und der Präsident des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, zu Beginn der Pandemie Corona diese mit Influenza verglichen haben, war insofern ein katastrophaler Fehler, weil bezüglich Corona weder die Infektiosität noch die Übertragungswege genau bekannt waren und es keine Behandlungsroutinen und Medikamente gegeben hat. Nachdem es gegen die Erwartung des Bundesgesundheitsministers doch zu einem pandemischen Verlauf in Deutschland gekommen ist, waren die ersten Maßnahmen einschließlich des ersten Lockdowns zwar in panischer Hektik, aber doch hinsichtlich des Eindämmungsversuchs gerechtfertigt erlassen worden.
Blöd: "Querdenker" mögen Prantl
Doch ist es dann wirklich richtig, von einem "Ausnahmezustand" zu sprechen, in dem Grundrechte, insbesondere "die Freiheit" außer Kraft gesetzt wurden? "Der Ausnahmezustand lugte nicht mehr nur um die Ecke, er war da. Und es herrschte eine allgemeine Stille, auch darüber." Prantl spürt selbst, dass er mit der Art und Weise, wie er "die Freiheit" beschwört, in fatale Nähe zu den "Querdenken"-Demonstrationen gerät, mit denen und deren Parolen er aber nichts zu tun haben möchte. (Nicht von ungefähr zitierte Initiator Michael Ballweg den Münchner Publizisten bei der letzten "Querdenken"-Demonstration auf dem Cannstatter Wasen ausführlichst).
In einer merkwürdig verqueren Formulierung umschreibt Prantl das eigentliche politische Problem – ohne es als nur politisch zu lösendes Problem zu erfassen. "Es wurde eine Stimmung geschaffen, in der sich Menschenrechte und Menschenleben gegenüberstehen und die amtlich verordnete Aussetzung von Menschen- und Bürgerrechten als Preis für die Rettung von Menschenleben gilt." Wer oder was ist dieses "es", das eine solche Stimmung geschaffen hat? Und zu welchem Zweck? Und überhaupt: Wie verhält sich eine solche "Stimmung" zu den Bestimmungen des Grundgesetzes?
9 Kommentare verfügbar
Peter Pascht
am 10.05.2021Einen "Überverfassungsrechtlicher Notstand" gibt es nicht,…