Zumindest einige äußern sich sogar begeistert: "Es ist höchste Zeit, die Reißleine zu ziehen", kommentierte die FAZ. Und man solle die Sperrung von Trumps Twitter-Konto nicht "zu einem Präzedenzfall hochstilisieren". Auch Matthias Kettemann vom Leibniz-Institut für Medienforschung begrüßt die Aussperrung des Noch-Präsidenten bei Twitter, Facebook & Co. Genauso wie die überwältigende Mehrheit der Deutschen. In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey erklärten laut "Augsburger Allgemeinen" vier von fünf Befragten, es sei richtig, dass Twitter Trumps Account dauerhaft gesperrt habe. Nur 15 Prozent fanden den Schritt falsch.
Dieses Ergebnis halte ich für beängstigend, denn hier wird etwas verwechselt, was nicht verwechselt werden dürfte: die Presse- und Meinungsfreiheit und die Kritik an Politikern wie Donald Trump, deren Politik wir bekämpfen sollten. In Deutschland gibt das Grundgesetz dafür den Rahmen – bis zum Recht auf Widerstand (Artikel 20 Absatz 4). Doch dazu müssen wir wissen, was Leute wie Trump & Co. denken, wie sie agitieren. Und wir müssen den vielen Sympathisanten die Möglichkeit geben, selbst zu lesen, was ihr Held täglich absondert. Wenn er sich strafbar macht, ist die Justiz zuständig.
Von Feinden der Redefreiheit ausgenutzt?
Erfreulich kritisch äußerte sich übrigens Kanzlerin Angela Merkel, und Kreml-Kritiker Alexej Nawalny schreibt: "Dieser Präzedenzfall wird von Feinden der Redefreiheit weltweit ausgenutzt werden." Ich meine, nur wenn die Trumps dieser Welt und ihre Anhänger Redefreiheit genießen, können wir dieses Recht und den Rechtsstaat glaubwürdig verteidigen. Es ist ein Menschenrecht, und es ist ein Grundrecht (Artikel 5 des Grundgesetzes). Und wir müssen die Presse- und Meinungsfreiheit nicht nur verteidigen, sondern zum Teil auch immer wieder neu erkämpfen – heutzutage vor allem im Bereich der "Sozialen Medien".
Wir dürfen nicht hinnehmen, dass die reichsten und mächtigsten Konzerne der Welt darüber entscheiden, was bei Twitter, Facebook & Co. an Meinungen verbreitet wird. "Eine Zensur findet nicht statt." So steht es im Grundgesetz. Das gilt für den Staat, müsste aber auch für Plattformen gelten, die wie moderne Marktplätze agieren, nur um ein Vielfaches größer sind.
Es sind Plätze, auf denen sich Millionen, ja Milliarden Menschen austauschen. Doch die Regeln (Legislative) legen die Konzerne selbst fest, inklusive der Algorithmen, die laufend geändert werden, nie transparent sind und vor allem einem dienen sollen: dem Geschäftsinteresse.
Auch die Durchsetzung ihrer Regeln (Exekutive) übernehmen die Konzerne selbst. Sie geben inzwischen sogar offen zu, dass sie User-Uploads vermehrt mit automatischen Uploadfiltern durchsuchen und dass dabei auch viele Inhalte verschwinden, die nicht problematisch sind.
Wie ein kleiner autokratischer Staat
Damit spielen Wirtschaftsführer wie Jack Dorsey und Mark Zuckerberg so etwas wie Staat im Staate. Und das nicht nur in einem Staat, den USA, sondern in vielen. Zensoren ohne demokratische Legitimierung. Twitter verhalte sich wie ein "kleiner autokratischer Staat", kritisiert deshalb auch Jillian York von der Bürgerrechtsorganisation Electronic Frontier Foundation in einem Interview mit der "Süddeutschen Zeitung".
Was tun? "Wir müssen die Plattformen an ihre Verantwortung erinnern, nicht aus ökonomischen Gründen ethische oder rechtliche Werte über Bord zu werfen." So der Medienforscher Matthias Kettemann jüngst im Interview mit den "Tagesthemen". Das ist naiv. Appelle dieser Art waren noch nie erfolgreich. Doch es gibt keine Patentrezepte.
Zumindest ein gemeinsames Ziel müsste formulierbar sein: so viel Meinungsfreiheit wie möglich. Entscheidungen über Grenzen der Meinungsfreiheit und deren Überwachung müssten so staats-, so wirtschafts- und so lobbyfern wie möglich festgelegt werden. Auch beim Meinungsaustausch über das Internet und seine Plattformen, die virtuellen Marktplätze. Marktplätze gehören in demokratischen Staaten den Bürgern. Jeder darf auf ihnen seine Meinung kundtun – mündlich oder in gedruckter Form. Für die Einhaltung der Regeln ist der Staat zuständig, nicht ein privater Marktplatzbetreiber.
Soziale Medien müssen sozialisiert werden
In Deutschland hat laut Bundesverfassungsgericht nicht einmal eine Aktiengesellschaft wie die Fraport AG das Recht, darüber zu entscheiden, ob jemand in der Abflughalle des Frankfurter Flughafens Flugschriften verteilen darf. Das Unternehmen hatte einer "Initiative gegen Abschiebungen" ein Flughafenverbot erteilt. Die Fraport AG habe damit, so die Karlsruher Richter, gegen das Grundrecht der Meinungsfreiheit verstoßen. (Urteil vom 22. Februar 2011; 1 BvR 699/06)
Dies könnte auch für Internet-Plattformen gelten – zumindest für den Bereich des öffentlichen Meinungsaustausches. Es wäre die Aufgabe der Politik, dafür Wege zu finden, denn die Eigentümer der derzeit relevanten Plattormen haben ihren Sitz in den USA.
Christopher Ziedler schrieb am 10. Januar in einem Leitartikel der "Stuttgarter Zeitung": "Es ist Aufgabe des Gemeinwesens, Grenzen der Meinungsfreiheit festzulegen: Soziale Medien müssen sozialisiert werden."
Könnte das unser gemeinsames Ziel als Journalistinnen und Journalisten sein? Als private und öffentlich-rechtliche Medien? Und wie würden die ersten Schritte dazu aussehen? Wie können wir mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber ins Gespräch kommen, wie mit der Politik? Darüber sollten wir jetzt eine Debatte beginnen – auch in den verschiedenen Journalisten- und Medienverbänden.
Dieser Debattenbeitrag ist zuerst erschienen in "M – Menschen machen Medien" der Deutschen JournalistInnen-Union (dju). Die dju ist Teil der Gewerkschaft Verdi.
9 Kommentare verfügbar
Jue.So Jürgen Sojka
am 22.01.2021Nun dürften Sie ebenfalls eine Fitness Ihr Eigen nennen, wie sie der Schreiber dieser Zeilen „SdZ“, im Mai 1954…