Damit eine Lücke schließbar wird, muss zunächst eine Schneise geschlagen werden. Vertraglich festgehalten ist die Rodung von 27 Hektar Wald. Naturgemäß ruft ein solches Vorhaben Protest auf den Plan. Ebenfalls entspricht es der Tradition, dass dort, wo sich Menschen für den Umweltschutz einsetzen, Springers Zeitungen ein paar gut gemeinte Ratschläge parat haben. Selten aber kristallisiert sich der Idealtypus reaktionärer Gelehrsamkeit so rein heraus wie in einem aktuellen Kommentar für die "Welt". Denn "ihr Ziel kann man – je nach Blickwinkel – durchaus ehrenwert finden", schreibt dort ein Curd Wunderlich über "junge Klimaaktivisten, die alles der Einhaltung des Pariser Klimaabkommens unterordnen wollen". Ihre Methoden erscheinen ihm "jedoch immer zweifelhafter" – mit "offensichtlich krimineller Energie" und tolerierten "Gewaltexzessen". Was fehlt noch auf der Strichliste? Der Hinweis: "Idealismus ist wichtig und muss von gemäßigten politischen Kräften ausgehalten werden. Fanatismus aber nicht."
Die am Protest Beteiligten könnten Teilaussagen unterschreiben. Denn tatsächlich ist der Fanatismus unerträglich, angesichts einer eskalierenden Klimakrise mit sich jährlich überbietenden Allzeitrekorden bei den freigesetzten Treibhausgasen einen artenreichen Forst zugunsten des individualisierten Straßenverkehrs niederzuholzen. Allerdings sehen nur wenige der Umweltschutz-Aktivisti ihren Antrieb in krimineller Energie; sie berufen sich zumeist auf das Konzept des zivilen Ungehorsams, der dem bürgerlichen Parteienspektrum Bauchschmerzen bereitet, weil er nur per Grenzüberschreitung funktioniert.
Moralisch keine Steuern zahlen
Dabei müsste der Mensch, der den Begriff "ziviler Ungehorsam" geprägt hat, auch einem Christian Lindner von Grund auf sympathisch sein: Weil er weder die Sklaverei noch den Mexiko-Krieg mit seinem Gewissen vereinbaren konnte, weigerte sich der US-amerikanische Philosoph Henry David Thoreau im Jahre 1846, seine Steuern zu zahlen. Die logische Konsequenz: Er landete im Knast.
Vom Freiheitsentzug ließ sich der Rebell allerdings nicht bekehren, im Gegenteil: Mit seinem drei Jahre später erschienenen Essay "Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat" stachelte er potenzielle Nachahmer auf: "Wenn das Gesetz so beschaffen ist, dass es notwendigerweise aus dir den Arm des Unrechts an einem anderen macht, dann, sage ich, brich das Gesetz. Mach' dein Leben zu einem Gegengewicht, um die Maschine aufzuhalten."
Doch wie bei allem, was mit der Moral zusammenhängt, sind objektive Maßstäbe unmöglich. Wie viel Grenzüberschreitung angebracht ist, um gegen ungerechtes Recht anzukämpfen, ist eine so komplexe Streitfrage, dass die philosophischen Betrachtungen dazu Bibliotheken füllen. Ist jeder Rechtsbruch kategorisch abzulehnen? Darf zur Beseitigung staatlichen Unrechts Gewalt angewendet werden? Welches Maß an Widerstand ist verhältnismäßig?
Hannah Arendt antwortet darauf ganz anders als Immanuel Kant, und Sokrates vertritt nicht den gleichen Standpunkt wie Jana aus Kassel. Auch Winfried Kretschmann steuert einen Denkanstoß zum Thema bei: Einmal die Schule zu schwänzen, klärte der Spitzengrüne im April 2019 die streikenden Kids von Fridays for Future auf, das falle noch unter zivilen Ungehorsam. Doch dürfe daraus keine Dauerveranstaltung werden: "Sonst sucht sich zum Schluss jeder sein Thema aus, das er dann irgendwie moralisch auflädt."
Die Frage nach der Begründung ist in der Tat eine wichtige. Im autoritären Verbrecherregime lässt sich der radikale Protest gegen die herrschenden Tyrannen besser rechtfertigen als im demokratischen Rechtsstaat, dessen politischer Kurs durch Wahlen und Mehrheiten legitimiert ist.
Wohin ausweichen?
Allerdings billigt es eine liberale Rechtsphilosophie, in deren Geiste das Grundgesetz entstanden ist, Individuen zu, sich einzelnen Gesetzen und Normen zu widersetzen – auch vor dem Hintergrund der deutschen Vergangenheit mit den schlimmsten Verbrechen in der Menschheitsgeschichte. Einerseits ist eine behütete Rechtsordnung zwar zwingende Voraussetzung für staatliches Handeln. Andererseits wäre es unverhältnismäßig, von allen Bürgerinnen und Bürgern eine komplette Unterwerfung zu verlangen. Denn sobald ein Gesetz oder eine Regel mit dem eigenen Gewissen unvereinbar ist und sich eine Person damit nicht arrangieren kann, bliebe ansonsten nur eine Option: Den Geltungsbereich der Rechtsordnung – also das Staatsgebiet – zu verlassen. Wobei unklar bleibt, ob man anderswo aufgenommen würde.
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Peter Pan
am 10.12.2020