Wer wissen will, wie langsam die Bahn geworden ist, muss nach Schorndorf zu Andreas Kleber fahren. An einem grauen Februartag empfängt er mich in seiner Wohnung, die er so ausgesucht hat, dass er einen Blick auf Bahnhof und Gleisanlagen hat. Ein Zug fährt vorbei, "heute bloß acht Minuten zu spät", sagt Kleber, "das ist gut".
Der 71-jährige ist in Sachen Bahn komplett verrückt, das weiß er. In seinem Leben, sagt er, gebe es vier große Lieben: "Die Bahn. Meine Frau. Küche und Kirche". Ob diese Wortreihung ein Zufall ist?
Wohl kaum. Denn um seine Handynummer zu merken, hilft er in einer Email mit dieser Eselsbrücke: "Ich bin erreichbar unter: 01XX 524 26 447 (einfach zu merken, nach gewissen Zugnummern aus den 70ern: D 524 Dortmund-Essen-Köln-Ffm-Würzburg-München; F, später TEE 26 DIAMANT Düsseldorf-Köln-Brüssel-Antwerpen, D 447 Köln-Hagen-Hannover-Wolfsburg-Magdeburg-Potsdam-Cottbus-Görlitz)."
So einer ist Kleber.
Als ich ihn am 23. Mai 2019 anrufe, morgens um elf Uhr, sagt er ganz euphorisch: "Ich mache jetzt gerade meine beste Flasche Sekt auf! Heute ist der 65. Geburtstag meines Lieblingszugs, des Fern-Eilschnellzugs von München nach Freiburg über Saulgau! 49 Jahre, 6 Monate und 20 Tage hat er gelebt! Als er das erste Mal fuhr, habe ich die Messe geschwänzt, ich war ja Messdiener, aber ich habe zum Michael, Gott hab ihn selig, gesagt: Du musst mich heute vertreten! Es war wohl eine Sünde, die Messe zu schwänzen, aber der Zug war mir wichtiger! 10 Pfennig musste ich für die Bahnsteigkarte bezahlen, viel Geld für mich damals, aber es musste sein! Ich musste den Zug sehen, der gezogen wurde von der preußischen P8/38.10, der zuverlässigsten Dampflok der Bundesbahn, 3000 Stück davon gab es!"
So einer ist Kleber.
2 Kommentare verfügbar
Verena Saisl
am 11.10.2019Da es hier ja als "stand-alone" auftaucht, dies noch mal in Dauerschleife:
Na ja, so isser halt, der Kaputtalismus. Alles muss er zu Geld machen. Und dabei viel zersören. Das aber in seiner siechen Zombiephase ganz offensichtlich schon lange…