KONTEXT:Wochenzeitung
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"Wir schließen uns nicht ein"

"Wir schließen uns nicht ein"
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Die da draußen sind verdächtig! So hat Kontext einen Text über die John Cranko Schule überschrieben, die ihre ElevInnen möglichst blickdicht abschotten will. Verantwortlich dafür ist Marc-Oliver Hendriks, der geschäftsführende Intendant des Stuttgarter Staatstheaters. Ein Gespräch über Risiken im Ballettbetrieb – und eine teure Oper.

Die Delegation ist respektabel. Marc-Oliver Hendriks, 48, kommt mit Pressesprechern und Bauleitung, um zu zeigen, was strittig ist: der Neubau der Cranko Schule am Stuttgarter Urbansplatz – und die Nähe der Nachbarschaft. Ersteres ist einfach. Man ist im Plan, eröffnet werden soll nach dem Sommer. Es sei gut, wenn die Handwerker Zeitdruck haben, sagt der Intendant. Zweiteres ist schwierig. Wie nahe dürfen Spaziergänger kommen? Hendriks hätte sie am liebsten weit weg, würde es aber nie so profan ausdrücken. Aber will das die Stadt?

Herr Hendriks, wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass Sie lauter perverse Spanner um die Cranko Schule herum lungern sehen. Woher die Angst?

Persönliche Implikationen spielen hier keine Rolle. Wir haben eine hohe Verantwortung zu tragen, insbesondere gegenüber jenen Kindern, die dauerhaft in der Schule leben. Sie kommen aus allen Teilen der Welt, ihre Eltern haben sie in unsere Obhut gegeben, das Kindeswohl ist oberstes Gebot. Das heißt, dass wir sie gegenüber allen Risiken schützen müssen, die wir als solche identifizieren können. Lassen Sie mich es Risikomanagement nennen.

Ihre Sorge in allen Ehren. Aber Ihr Generalverdacht, dass da draußen alles verdächtig ist, erscheint uns paranoid.

Das ist polemisch überspitzt. Es geht hier um Professionalität im Umgang mit einer solchen Einrichtung. Die Schule hat ein internationales Renommee, sie ist bedeutsam für die Kompanie, das Stuttgarter Ballett, sie zieht in einen Neubau, der öffentlichkeitswirksam rezensiert wurde. Er ist ein geschlossenes Gebäude in seiner skulpturalen Gestaltung. Und nebenan ist eine Freifläche, die wir uns als geschützten Raum für unsere Schülerinnen und Schüler wünschen. Das erscheint uns ein legitimes Interesse zu sein.

Das gemeine Volk hat hier nichts zu suchen.

Aus der Perspektive der Öffentlichkeit ist eine andere Zielvorstellung nachvollziehbar: eine Durchwegung, eine komplette Öffnung des Grundstücks. Ich räume ein, dass wir hier einen klassischen Zielkonflikt haben.

Wenn wir Sie richtig verstanden haben, werden Sie ihn im Rahmen einer konsolidierten Kommunikation lösen.

Die Kommunikation ist mittlerweile tatsächlich konsolidiert. Wir haben uns vor Weihnachten in einer großen Runde im Rathaus mit den zuständigen Bürgermeistern Pätzold und Thürnau sowie der Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle getroffen, und die jeweiligen Motivlagen ausgelotet. Sie sind in ihrer Gegensätzlichkeit nicht vollständig kompatibel, und deshalb müssen wir nach Wegen suchen, diesen Zielkonflikt aufzulösen. Wir sind allen Ideen gegenüber aufgeschlossen, auch wir suchen gute nachbarschaftliche Beziehungen. Es scheint mir aber nicht klug zu sein, Einzelheiten öffentlich vorzutragen, bevor wir am 13. Februar wieder gemeinsam zusammenkommen.

Veronika Kienzle denkt an Patenschaften und Nachbarschaftscafes. Oder wären Ihnen Berechtigungsausweise für die Benutzung der Wege lieber?

Wie gesagt, wir werden über alle Möglichkeiten sprechen, hier eine für alle tragbare Lösung zu finden. Aber ich bitte auch zu bedenken, dass in unseren Unterrichtsräumen sehr körperbetonte Aktionen ausgeführt werden und wir bei unseren Schülerinnen und Schülern ein gewisses Scham- und Schutzbedürfnis identifiziert haben. Dem werden wir mit einer vollkommenen Einsehbarkeit, also einer nahen Wegführung, nicht gerecht. Im Übrigen gibt es einen städtebaulichen Vertrag zwischen dem Land Baden-Württemberg und der Stadt Stuttgart, in dem steht, dass eine Durchwegung des Grundstücks nicht gegen die Interessen der Staatstheater durchgesetzt werden darf.

Was halten Sie denn von Jalousien oder blickdichten Folien?

Das betrifft nur scheinbar architektonische und technische Fragestellungen. Grundsätzlich gilt: Wir schließen uns nicht ein.

Verfügen Sie über empirische Erfahrungen, ein Voyeurswesen um den Ballettbetrieb betreffend?

Unsere Arbeit ist präventiv. Wenn wir hier über einen konkreten Fall sprächen, wären wir schon im Bereich der Organisationspflichtverletzung, der Haftung und der Berichterstattung, die wir uns, glaube ich, alle nicht wünschen.

Was halten Sie von der These, dass sich hier ein Vertreter der Hochkultur bewusst einmauern will?

Nichts, das sind Stereotype, und die sind auch nicht ganz frisch.

Originalität ist nicht behauptet worden.

Sie treffen auch inhaltlich nicht zu. Im Gegenteil, die Staatstheater sind in allen drei Kunstformen bestrebt, potenzielle Schwellenängste abzubauen. So wird es in der Cranko Schule erstmals eine Probebühne geben, zu der 200 Besucher Zutritt haben werden. Aber nochmals: Wir haben hier Kinder und Jugendliche als Schutzbefohlene, junge Menschen, die in Stuttgart nicht nur das Tanzen, sondern auch das Leben lernen. Und wir wissen, dass nichts so lebensgefährlich ist wie das Leben. Sie brauchen geschützte Räume, ein Zuhause, wenn Sie so wollen.

In diesem Zuhause, also der John Cranko Schule, hat es einen Direktor namens Alex Ursuliak gegeben. Sieben Schülerinnen haben ihm sexuellen Missbrauch vorgeworfen. So viel zu den Gefahren von innen.

Der Fall Ursuliak liegt fast 22 Jahre zurück. Die meisten Kolleginnen und Kollegen aus jener Zeit sind nicht mehr da, ich kannte den Vorgang aus zweiter und dritter Hand. Ja, die Staatsanwaltschaft hat ermittelt, aber das Verfahren auch wieder eingestellt, aus Mangel an Beweisen. Die Schule hat ihrerseits sofort mit entschiedener Konsequenz reagiert, Herrn Ursuliak frei gestellt und das Arbeitsverhältnis beendet.

Zur selben Zeit war der Filmemacher Walter M. vor Ort und sollte einen Beitrag über die Schule und ihre Eleven erstellen. Auch gegen ihn wurde wegen des Verdachts auf sexuellen Missbrauchs ermittelt.

Das stand im Zusammenhang mit der Berichterstattung über Herrn Ursuliak, der diesen Filmemacher engagiert haben soll. Auch hier ist es zu keiner Anklage gekommen, weil es keine belastbare Verdachts- oder Beweislage gab. Insofern ist der Blick auf diese Dinge jetzt sehr retrospektiv und spekulativ.

Aber allein der Umstand, dass es diese Debatten gab, müsste Ihren Blick nach innen geschärft haben.

Wenn ich die genannten Fälle ausklammere, ist das nicht meine Arbeitsrealität. Präventiv haben wir seit vergangenem Jahr ein pädagogisches Konzept zum Schutz vor sexualisierter Gewalt und Diskriminierung. Das implementiert eine Kultur der Achtsamkeit, die für alle gilt, die mit den Schülerinnen und Schülern in Kontakt kommen. Hierfür stand uns auch eine Beraterin aus dem Hochleistungssport zur Seite.

Nach den Vorfällen im Eiskunstlaufzentrum auf der Waldau erscheint das sinnvoll. Der damalige Trainer Karel Fajfr ist 1995 wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt worden.

Wir haben hier eine hohe Sensibilität und wir wissen, dass wir im Ballett ganz genau hinsehen müssen. Körperkontakt, Nähe und Distanz, gehen deutlich über das hinaus, was an einer normalen Schule üblich ist – gerade auch mit Blick auf die vielen verschiedenen Nationalitäten und ihre jeweiligen kulturellen Konzepte. Seien Sie versichert, wir sind hier gut aufgestellt.

Dann lassen Sie uns zur nächsten Baustelle überwechseln. Zur Oper. Bei einer Sanierung würde eine Seite des Gebäudes aufgerissen und eine Kreuzbühne eingesetzt, die bis zu sechs Meter in Richtung Landtag reicht. Die Flügel am Bonatz-Bahnhof lassen grüßen.

Die Frage ist: Sanieren wir einen status quo im Opernhaus, oder will man fürs Publikum ein Mehr an künstlerischen Optionen eröffnen? Für eine Kreuzbühne brauchen wir eine Seitenbühne auf der Seite zum Landtag hin. Bisher ist die Rede von einer Verschiebung der Fassade um zwei Meter oder zwei Meter zwanzig. Ob das mehr werden, das sind architektonische Gestaltungsfragen.

Da würde wohl ein Fass ohne Boden aufgemacht. Wie in Berlin oder Köln. Die Initiative Aufbruch Stuttgart hat fünf Architektur-Büros für ein Konzept an der Kulturmeile beauftragt, und alle plädieren für einen Neubau. Und was die Sanierungskosten der alten Oper betrifft: bis 2015 war von 18 Millionen Euro die Rede, dann plötzlich von 300 Millionen, inzwischen werden 600 Millionen genannt. Dazu kommen noch die Kosten einer mit rund 100 Millionen veranschlagten Interimsoper. Sind Sie immer noch für eine Sanierung?

Klassischer SPD-Hintergrund

Marc-Oliver Hendriks ist gebürtiger Duisburger, was ihm weder anzuhören noch anzumerken ist. Sehr distinguiert im Ausdruck, kein Pottslang. Bildung sei der Schlüssel für den sozialen Aufstieg gewesen, sagt der Sohn eines Ingenieurs für Arbeitssicherheit. Klassischer SPD-Hintergrund eben. Die Stationen: Abitur in Xanten, Studium der Geschichte, Politik und Anglistik in Duisburg, Jura in Konstanz. Seit 2009 ist er strippenziehender Intendant der Württembergischen Staatstheater in Stuttgart. (jof)

Das Opernhaus von Max Littmann ist für uns die DNA der Württembergischen Staatstheater, wir wollen es weiter entwickeln und erhalten. Ich glaube, das ist mit einem Eingriff möglich. Wir haben uns die Situation in London angeschaut oder in München, und dort gesehen, dass es auch bei historischen Theatergebäuden möglich ist, einen ganz deutlichen Produktivitätsfortschritt und künstlerischen Mehrgewinn zu erzielen.

Der Bau würde trotzdem das Zentrum bleiben. Es gibt doch Vorschläge, ihn weiter fürs Ballett zu nutzen und dazu als einen in Stuttgart immer wieder geforderten Konzertsaal. All dies wäre mit sehr viel weniger Sanierungsaufwand verbunden.

Das Opernhaus ist kein tauglicher Konzertsaal, das Staatsorchester gibt seine Kammer- und Sinfoniekonzerte nicht im Opernhaus, sondern in der Liederhalle – wegen der Akustik.

An der könnte man arbeiten.

Das muss ich jetzt schon genauer erklären. Das hat mit der Kubatur, der Anzahl der Sitzplätze, dem Orchestergraben und dem Raumverhältnis zu tun. Es sei denn, sie steuern das elektroakustisch, das wäre dann aber kein klassischer Konzertsaal, sondern eine Soundbox. Ein gutes Opernhaus ist nicht zwingend ein guter Konzertsaal.

Wird Ihnen eigentlich bei den Zahlen nicht schwindlig?

Ist das eine Frage?

Ja.

Die Kosten für das Paketpostamt als Interim waren mit 116 Millionen angegeben, Stadt, Land und Staatstheater haben den Standort dann gemeinsam revidiert, weil es keine Nachnutzungsperspektive gab. Bei der jetzigen Interimslösung an den Wagenhallen waren 89 Millionen im Gespräch, aber es waren noch nicht alle Positionen berücksichtigt. Was das vom Verwaltungsrat beschlossene Sanierungs- und Erweiterungskonzept für das Opernhausbetrifft, bin ich hinsichtlich der Machbarkeit sehr zuversichtlich. Sicherlich wird es im Sommer, wenn die Kosten bekannt gegeben werden, noch eine sehr intensive Diskussion in der Stadt geben.

Kein Wunder, bei den genannten Zahlen.

Ihre Zahlen kann ich, wie gesagt, weder bestätigen noch dementieren.

In dem vom Verwaltungsrat abgesegneten Konzept wurde allein der Mehrbedarf bei den Räumen der drei Intendanten mit 500 Quadratmetern aufgelistet.

Sie greifen da in die Skandalisierungsklamottenkiste, wahrscheinlich versehentlich.

Nein, das war Absicht.

"Intendanz" heißt ja nicht das Büro des Intendanten. In den Staatstheatern zum Beispiel heißt das: Künstlerisches Betriebsbüro, Dramaturgie, Öffentlichkeitsarbeit und so weiter. Es geht um Menschen und ihre Arbeitsplätze, ich möchte da jede Polemik vermeiden, das klingt mir zu klassen- und kulturkämpferisch. Über neunzig Prozent unseres Mehrbedarfs von insgesamt 10450 Quadratmetern ist aus öffentlich-rechtlichen Bestimmungen hergeleitet. Jeder Quadratmeter ist von neutraler Seite kritisch hinterfragt worden.

Nehmen wir mal an, alle Ansprüche sind berechtigt. Haben Sie nicht trotzdem ein schlechtes Gewissen, wenn Sie sehen, wieviel Geld für die Oper vorgesehen ist im Vergleich zu anderen Kultureinrichtungen?

Einerseits, andererseits. Natürlich ist das, absolut betrachtet, eine große Summe. Ich halte aber nichts davon, und in der Fragestellung klingt das an, Dinge in einen Gegensatz zu stellen – entweder, oder. Machen wir Kultur oder machen wir Soziales? Wir machen beides. Bauen wir Bibliotheken oder bauen wir Theater? Beides. Kindertagesstätten, Schulen, alles ist notwendig. Wir sind in einer relativ glücklichen Wirtschaftssituation, in Stuttgart und im Land. Das ist aber natürlich kein Grund, maßlos zu werden.


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4 Kommentare verfügbar

  • Kultur ist Lebenselexier
    am 17.02.2019
    Antworten
    Verlinkung und Info auf den 16.1. fehlt am Ende des Artikels.
    Mein Gott welche umsichtige Programmierung.
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