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Als gäbe es kein Morgen

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Es wäre von Vorteil, wenn sich die SPD besinnen würde. Auf ihr Programm, den Koalitionsvertrag und die eigene Überzeugung. Stattdessen zerfleischen sich die GenossInnen. Ganz so, als gäbe es kein Morgen. Kommentiert unsere Autorin.

"Macht euch ein umfassendes Bild und lasst uns den vorliegenden Vertrag danach gemeinsam bewerten", schrieb Luisa Boos, die Generalsekretärin der Südwest-SPD, vergangene Woche an ihre Mitglieder. Da schien die rote Welt noch halbwegs in Ordnung. Mit den Verhandlungsergebnissen, vor allem mit der Ressortverteilung, konnten sich die SozialdemokratInnen sehen lassen. Alles Weitere werde jetzt im Parteivorstand diskutiert, so Boos weiter, über die Beratungen "informieren wir Dich im Anschluss."

Ziemlich genau 48 Stunden später war alles anders. Die schier ausweglose Situation, in die sich die SPD nach dem Abschluss der GroKo-Verhandlungen manövriert hat, gibt ein kurzer Dialog auf der Facebook-Seite des Landesverbandes wieder. "Solange Genosse Schulz Minister werden will und solange er noch eine führende Position in der SPD einnimmt, werde ich auf jeden Fall mit NEIN stimmen", schreibt ein User namens Peter Schlegel. "Das hat sich ja nun erledigt", antwortet Maria Lehmann, als die Bombe mit dem Verzicht auf ein Ministeramt geplatzt ist. Darauf Schlegel: "Das Restpersonal ist jedoch auch nicht viel besser …" Eine Partei, die im Inneren solche Freunde hat, braucht keine Feinde von außen mehr.

Chaostage bei der SPD, für die es viele Verantwortliche gibt. Noch-Parteichef Martin Schulz, der Egoshooter im Außenministerium Sigmar Gabriel, das neue Machtzentrum um Andreas Nahles und Olaf Scholz, etliche andere wie Ralf Stegner oder Manuela Schwesig. Dasselbe gilt für Jusos und Linke, für die Strippenzieher aus Seeheimern und Netzwerkern. Jeder Blick in die Zukunft, jedes Gespräch darüber, wie der Mitgliederentscheid – aus Sicht all derer, die der Republik eine Regierung wünschen – erfolgreich gestaltet werden kann, ist dominiert von desaströsen Umfragewerten. Die Baden-WürttembergerInnen können sich angesichts der Zahlen aus dem Bund ausrechnen, dass sie an der Einstelligkeit schrammen.

Mit stündlich neuen Wortmeldungen beschädigten zu viele GenossInnen ihre eigene Partei. "Die Zeit, in der Ämter im Hinterzimmer vergeben werden, muss endlich vorbei sein", verlangt Baden-Württembergs Juso-Vorsitzender Leon Hahn. Hinterzimmer? Nur zur Erinnerung: Martin Schulz wurde auf einer Klausurtagung des Vorstandes – mehr als vier Dutzend Köpfe, nominiert in ihren Landesverbänden, demokratisch legitimiert auf Bundesebene – einstimmig zum Herausforderer von Angela Merkel gewählt und wenig später mit den berühmten 100 Prozent zum Parteichef.

Auch Hilde Mattheis, die stellvertretende Landesvorsitzende der Südwest-SPD, zählt zu denen, die für eine Urwahl der Spitze plädieren. "Dass zwei, drei Leute Posten unter sich verteilen", das geht gar nicht aus ihrer Sicht. Solche Entscheidungen müssten "auf einer breiten Basis stehen". Allerdings sieht das derzeit geltende Organisationsstatut der SPD eine solche Urwahl gar nicht vor. Nicht zuletzt, weil die Erfahrungen damit alles andere als gut sind. Rudolf Scharping wurde 1993 von einer relativen Mehrheit der Mitglieder zum Parteichef gekürt und scheiterte nach nur 24 Monaten. Doch wer sich öffentlich gegen die Schimpf-und-Schande-über-alle-Choräle stellt, hat es nicht leicht.

Es wird hemmungslos gekübelt

Die Landesvorsitzende Leni Breymaier muss sich sogar vorwerfen lassen, den Rückzug des Parteivorsitzenden bedauert zu haben. Jedenfalls sind die Mehrheitsverhältnisse unter Facebook- oder anderen KommentatorInnen oder den tagtäglichen unsäglichen Straßenumfragen, in denen spürbar Ahnungslose über Politik und Politiker herziehen, bemerkenswert. Es wird hemmungslos gekübelt, gegen Personen und gegen Strukturen. Nur wenige bedächtige Stimmen mischen sich in die hitzigen Debatten. "Es fühlt sich nicht richtig an", staunt Marijana Tomin vom SPD-Ortsverein Rottenburg, "auch wenn er vielleicht den ein oder anderen Fehler gemacht hat – den Shitstorm hat er nicht verdient, deshalb danke für alles, Martin."

Zum Beispiel für die sozialdemokratische Handschrift im Koalitionsvertrag. Ausgerechnet viele von denen, die so laut nach Erneuerung rufen und damit Inhalte zu meinen vorgeben, befassen sich beim Posten und Twittern kaum oder gar nicht mit den konkreten Vereinbarungen des Koalitionsvertrags, dafür aber mit beherzter Pauschalschelte. Dabei ist der Selbsttest nicht kompliziert, niemand müsste die 177 Seiten oder 8355 Zeilen analysieren oder gar durchgerechnet haben. Denn auf nur acht Seiten im Kapitel "Eine neue Dynamik für Deutschland" ist das Wesentliche zusammengefasst, die Verbesserungen für Baden-Württembergs Städte und Gemeinden, weil die Milliardenhilfen des Bundes nicht mehr allein in finanzschwache Kommunen fließen würden, die Passagen zum wieder paritätisch finanzierten Krankenversicherungsbeitrag, zur Rente, der Entlastung von Familien, zum Beispiel weil auf Vermögen unter 100 000 Euro nicht mehr zugegriffen wird zur Finanzierung der Pflege von Angehörigen. Oder zum Rechtsanspruch auf Ganztagsschule und die scharfen Einschnitte in Kettenverträge. So schlecht ist das alles nicht.

Schlechter sieht's mit der <link https: www.spd.de spderneuern external-link-new-window>vielfach geforderten Erneuerung aus. Mal ganz abgesehen davon, dass die wenig erfolgsverwöhnte Südwest-SPD mehrere Renovierungsrunden hinter sich hat, war doch gerade Martin Schulz als Erneuerer gefeiert worden. Mit seiner Kritik an Hartz IV, mit dem Versprechen von mehr Gerechtigkeit. Beim Landesparteitag in Schwäbisch Gmünd vor einem Jahr hielten sich viele vom Parteinachwuchs sogar Haare ins Gesicht, wie Sigmar Gabriel sagen würde, also selbstgebastelte Bärte aus Papier. Auf den Treppen hinab zum Saal war das Selfie-Gedränge um Schulz riesig. Im Lichte aktueller Ereignisse muss dieser Hype mitsamt minutenlangen "Martin, Martin!"-Sprechchören zwischen Nord- und Bodensee gelesen werden als Ausdruck erheblicher Verunsicherung und Desorientierung.

Würden sich mehr GenossInnen auf das Hamburger Grundsatzprogramm der Partei oder gar auf die eigenen Überzeugungen besinnen, gäbe es an der roten Basis mehr Faible für nüchterne Kritik und Selbstkritik und weniger Anfälligkeit für Personenkult – dann gliche sie dem von dem früheren Generalsekretär Peter Glotz beschriebenen beweglichen Tanker, mit immerhin 464 000 Mitgliedern, statt einem Finn-Dingi. Und einer der führenden FAZ-Kommentatoren hätte nicht schon in froher Erregung darüber fabulieren können, dass, wenn jetzt nicht dies oder jenes passiert, "die Tage der SPD gezählt" sind.


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13 Kommentare verfügbar

  • M. Stocker
    am 18.02.2018
    Antworten
    Ach herrje, schon die Überschrift: 'Als gäbe es kein Morgen'. Nein, für die SPD gibt es kein Morgen, ganz ohne Konjunktiv.

    Eine Partei, in der - ganz im Gegensatz zur Wahrnehmung der Autorin - Andrea Nahles nach Schultz' Abgang schon mal ohne jegliche Wahl zur neuen Parteivorsitzenden gekrönt wird,…
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