KONTEXT:Wochenzeitung
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Die Quelle der Lust

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Die Kehrwoche gehöre zu den Schwaben wie Maultaschen und Häusle bauen, schreibt die "Bild". Und die "Stuttgarter Nachrichten" erheben sie in den Rang von Lederhose und Sauerkraut. Jetzt soll der organisierte Putzfimmel 300 Jahre alt geworden sein. Eine kleine Sensation, sagt Kontext-Redakteurin Anna Hunger, die über die Kehrwoche geforscht hat.

Nein, die Kehrwoche ist nicht lustig. Sie ist keine niedliche Marotte eines jenseits der baden-württembergischen Landesgrenzen sowieso belächelten Völkchens. Sie ist nicht goldig, sie ist nicht zum Lachen. Die Kehrwoche ist ein verdammt ernstes Thema.

"Da kucket se", brüllt die Frau aus Hinterdupfingen, die weder ihren Namen noch ihren Wohnort in einer Zeitung lesen möchte. Glutrot im Gesicht und vor lauter Zorn hyperventilierend, während sie ihren Zeigefinger voller Empörung immer wieder in Richtung des Nachbargrundstücks rammt. "Des ganze Laub da, des macht koinr weg. Kucket se, wie des aussieht! Die da driaba, des isch a blede, a läschdige ond gans bsonders a faule Bruns!"

Das ist die Kehrwoche

Ein Rudiment schwäbisch-alemanischer Obrigkeitshörigkeit, eine soziale Perversion, die Mieter dazu zwingt, unter den hämischen Blicken der Nachbarschaft und in einer erzwungenen Katharsis jeden Samstag den Hof zu fegen und das Treppenhaus zu wischen. Die Kehrwoche ist die Essenz aus Schweiß, Tränen und einer per Gesetz in die Öffentlichkeit gedrängten Zurschaustellung einer der intimsten Tätigkeiten des Menschen – des Putzens.

Die Kehrwoche gibt es in schwäbischen Mietwohnhäusern. Sie verpflichtet die Mieter gesetzlich zur regelmäßigen Reinigung des Treppengeländers, der Kellerfenster, der Tür mitsamt der Briefkästen. Sie zwingt zur Entsorgung verendeter Insekten in Flurlampen, zur Säuberung von Türklinken, zur Flusenbeseitigung in Waschkellern, zur Entfernung von Herbstlaub, zur Tilgung aller Eisglättegefahr im Winter, zur Eliminierung jeglichen Unrats und jeglichen Schmutzes im Treppenhaus, im Keller, im Hof und auf dem Gehweg. Sie umfasst das Putzen der Fenster innen und außen, der Türrahmen, Klinken, Klingeln, der unzugänglichen "Eckle" unter Treppenansätzen, der Fußböden unter Blumenkübeln, das Abstauben großflächige Pflanzenblätter, die Pflege des Gartens, Baumbeschnitt, Rasenmähen, Unkrautjäten, das Fegen der Garagenvorplätze und des Hofs, manchmal auch das Bereitstellen und Auswaschen der Kompost- und Mülltonne.

Die schwäbische Hausfrau beschwört den Mythos von Sisyphos

Man macht die Kehrwoche nicht, man hat sie. Und wenn man sie hat, dann ist man "dran". "Send sie dran mit derre Kehrwoch?" "Noi, i hab se ledschde Woch scho khett."

Und die Kehrwoche "hend" meistens Frauen. "So beschwört die schwäbische Hausfrau an jedem Wochenende den Mythos von Sisyphos und beweist die Richtigkeit der These von Albert Camus, dass Sisyphos ein glücklicher Mensch war", schreibt der schwäbische Dichter Karl Napf. "Die weitgehende Askese der Männer bei der Kehrwoche muss daher als großzügige Geste verstanden werden, ihren Frauen diese Quelle der Lust zu erhalten."

Aber eigentlich obliegt das Putzen, seit der Mensch die erste Höhle bewohnt hat, sowieso der Frau und außerdem empfindet es der schwäbische Mann als höchst unsexy, einen Staubwedel respektive einen Wischmob in die Hand zu nehmen. Zumindest der schwäbische Mann jenseits der fünfzig schmückt sich - wenn überhaupt - lieber mit dem Besen und fegt samschdichs d´Stroß. Das allerdings auch erst in neuerer Zeit. Illustrationen aus dem 19. Jahrhundert zeigen beim Stroßfega vornehmlich das "Rickele", eine Frau im Schaffschurz, die mit unterwürfigem Blick einem Gendarmen lauscht, der das arme Weib mit erhobenen Zeigefinger und säbelbewaffnet zu bestmöglicher Sauberkeit ermahnt.

Gefegt wird in christlichem Zusammenhang häufig, um einen bösen Geist oder Ähnliches aus einem Haus auszukehren. Das schwäbische Kehrwochenfegen allerdings ist sehr viel weniger christlich motiviert. In früherer Zeit wurde auch nicht vordergründig deshalb samstags gekehrt und gewischt, damit der feine Schwabe am Sonntag, dem Tag des Herrn, frisch gebadet über einen sauberen Gehsteig zur Kirche gehen konnte. Nein, weil die Nachbarschaft am Sonntag über ebendiesen Gehsteig zur Kirche gegangen ist. Die Kirchen lagen im Stadt- oder Ortskern. Und weil vom Siedlungsrand bis zur Kirche in der Mitte viele Gehsteige unterschiedlicher Nachbarn begutachtet werden konnten, bemühte sich jeder, den saubersten zu haben. Das Straßekehren erfüllte also nicht nur einen hygienischen Zweck, sondern gleichfalls einen integrativen. Beliebt war der, der einen sauberen Gehsteig hatte. Und daran hat sich bis heute wenig geändert.

Man muss nichts können, man muss nur machen

Die Kehrwoche wird exakt um null Uhr Samstagnacht von einem Mieter an den in der Nachbarwohnung lebenden weitergegeben. Sie ist damit ein Reihendienst – und den haben die Schwaben nicht mal selbst erfunden, sondern der Historie entrissen und zweckentfremdet: Die Pflege des Oberhauptes in afrikanischen Bantu-Stämmen wurde im Reihendienst besorgt. Der Buckingham Palace wird reihum bewacht, und der jüdische Priester Zacharias war grade mit Tempeldienst dran, als ihm ein Engel erschien, sonst hätte er es vermutlich nicht in die Bibel geschafft. Der Reihendienst ist billig, irgendwie gerecht, so einfach, dass sich keiner rausreden kann, er habe das Prinzip nicht verstanden, und er ist an keine besondere Fähigkeit gebunden. Man muss nichts können, man muss es nur machen. Im Falle der Kehrwoche: ordentlich.

Die Kehrwoche findet aber nicht nur bei gutem Wetter statt. "Die Kehrwoche", schreibt der Schwabenforscher Thaddäus Troll, "tut sich besonders im Winter akustisch kund, das allmorgendliche Scharren der Schippen, die es dem Schnee verwehren, gnädig Dreck und Staub der Stadt zu absorbieren, ist das widerwärtigste Heimatgeräusch, das ich kenne."

Der sogenannte Schneedienst wird nicht wöchentlich, sondern meist täglich an den Nachbarn weitergegeben – damit jeder mal geschippt hat, wenn es doch nur zwei Wochen lang schneit. Der Schneedienst beginnt per Gesetz gegen sechs Uhr morgens und endet um 22 Uhr mit Beginn der Nachtruhe, dann also, wenn das Scharren und Schaben der Schippe zur Ruhestörung wird. In der Zeit dazwischen sei dem Kehrwöchner geraten, den Schneefall im Auge zu behalten. Sollte nämlich ein Passant auf dem nicht ordnungsgemäß geräumten Gehsteig ausrutschen, trägt der Kehrwöchner die Verantwortung für verstauchte Knöchel und gebrochenen Haxen. Nach Ende des Schneefalls verschwindet das Schneedienstschild in der Versenkung und taucht zum kommenden Winteranfang wieder auf – an der Tür desjenigen, der im vergangenen Winter als Nächstes drangewesen wäre.

Eigentlich gilt Herzog Eberhard im Bart als Erfinder

Wann genau die Kehrwoche erfunden wurde und wer sie erfunden hat, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen. Bisher musste jedenfalls häufig Württembergs Herzog Eberhard im Bart als Urheber herhalten. Der lebte von 1445 bis 1496. Eberhard hat eine rassige Italienerin geheiratet, von Kaiser Maximilian den Orden zum Goldenen Vlies und von Papst Sixtus IV die Goldene Rose verliehen bekommen. Alles in allem also ein patenter Kerl, der kurz bevor er starb beschloss, sein Stuttgart, in dessen Straßen sich Pferdeäpfel, Kuhfladen, das Blut der Aderlässe zu einer unsagbar stinkenden Brühe vermischten, in einen sauberen Garten Eden zu verwandeln. 1492 verfügte er also per Erlass Folgendes: "Damit die Stadt rein erhalten wird, soll jeder seinen Mist alle Woche hinausführen, jeder seinen Winkel alle 14 Tage, doch nur bei Nacht, räumen und an der Straße nie einen anlegen. Wer kein Sprechhaus [...] hat, muss den Unrat jede Nacht in den Bach tragen."

Die Stuttgarter allerdings waren nur wenig interessiert an der Idee, dauernd zu fegen und Unrat zu tragen. Was zur Folge hatte, das Stuttgart weiter stank und Eberhard im Bart an Fieber und bakterienbedingter Roter Ruhr starb.

In Stuttgart türmte sich also weiterhin "saumäßig" stinkender Morast. Und dazwischen rafften die Pest, Pocken, Typhus und Blattern die nicht kehrende Bevölkerung dahin. Die Pest verschwand im 18. Jahrhundert, der Stuttgarter Dreck erst im neunzehnten.

Richtig sauber wurden die Schwaben erst ab 1811

Einen Gesinnungswandel, der die Schwaben auf Jahrhunderte zur reinlichsten Spezies der westlichen Hemisphäre machen sollte, ereignete sich nach bisherigem Forschungsstand erst mit der Herzoglichen Gassensäuberungsordnung vom 6. August 1811. "Es muß jeden Tag, den Sonntag ausgenommen, vom ersten April bis letzten September, des Morgens von fünf bis sieben Uhr, in den Monaten Oktober bis März aber von acht bis neun Uhr morgens gekehrt werden, bei einem Gulden Strafe. (...) Sollte die Polizei ein außerordentliches Kehren für nötig finden, so hat jeder demselben sich sogleich zu unterziehen."

Seit Neuestem und dank der verdienstvollen Recherche der "Stuttgarter Nachrichten" steht nun auch noch eine Gassensäuberungsordnung von 1714 im Raum. Die will die erste gewesen sein, erlassen von Herzog Eberhard Ludwig von Württemberg. Eine Sensation, möcht man sagen, innerhalb der Kehrwochenforschung!

Und weil die Schwaben durch die seit dem 17. Jahrhundert bestehenden Kirchenkonvente sehr gut erzogen waren, sollte es dann also auch klappen mit dem Fegen "uff dr Gass".

Eine richtige Kehrwoche allerdings gab es erst mit Ausweitung des Mietwohnungsbaus in Stuttgart um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Dann aber richtig.

Gekehrt und in Hausfluren gewischt wurde ab da nicht nur gegen den Schmutz, sondern auch gegen die alte Bäuerlichkeit und für die neue Bürgerlichkeit und gegen die als kulturzersetzend betrachteten Fremdarbeiter, die die Stuttgarter Eisenbahn bauten. "En echter Schwob isch der, der sauber isch." Sauberer als alle anderen.

Was damals der Fremdarbeiter war, war später der "Flichtling". "Herrgottsblitz", zitiert der Schriftsteller Peter Härtling die Nachbarin seiner Mutter, "des han i mir glei denkt, daß dia net lese könnet! Ich woiß, Millionär send'r gwea, Schlösser hend'r verlore, Säcke voller Juwele, i woiß, feine Leut send'r gwea, d'Ärsch hend'r euch net selber putzt – aber was a Kehrwoch ischt, des wisset'r net!"

Die jungen Weiber wollen lieber im Nest liegen bleiben

Und was gestern der "Flichtling" war, war später der "Neger" und ist heute der Türke. "Die Zugereisten wollen schon lange die altbewährte Kehrwoche abschaffen", hat irgendwann in den 60er-Jahren ein sehr erboster Kehrwöchner an die "Stuttgarter Nachrichten" geschrieben, "weil sie nichts arbeiten wollen, diese jungen Weiber, und im Nest liegen bleiben wollen. Aber wenn die Miete sich um 5 Mark erhöhen sollte, dann stehen sie zusammen wie eine Dutschke-Gesellschaft."

Der Schwabe an sich traut dem Fremden also nur wenig Sauberkeit und wenig Gemeinsinn zu. Generell traut der Schwabe in einem Mietwohnungshaus einem Neumieter sowieso nur wenig zu. Der muss sich erst einmal würdig erweisen. Und das funktioniert bestens über die Kehrwoche.

Zieht einer ein, muss er putzen. Tut er es ordentlich, wird er zum rechtmäßigen Teilhaber einer schwäbischen Hausgemeinschaft. Tut er es nicht ordentlich, hat er ein Problem. Um einem Mieter eine nicht ordentlich gemachte Kehrwoche nachweisen zu können, hat der Schwabe über die Jahre einen ausgeklügelten Katalog an Beweissicherungsmaßnahmen entwickelt – und das ist traurigerweise nicht einmal ein Klischee. Laub auf und unter der Fußmatte, Radiergummibrösel unter Treppenabsätzen, Staubflusen im Trockenraum, Farbkleckse auf dem Treppengeländer. Sind diese Kleinigkeiten am Samstagabend verschwunden, gut. Sind sie noch da, gibt's Ärger.

Höchst selten aber begibt sich der Schwabe in die unvorteilhafte Position eines direkten Gesprächs. Die sozialen Sanktionen für weniger sauberkeitsaffine Mieter finden eher subtil statt und reichen von vollständiger Nichtbeachtung des Kehrwochensünders über klebrigen Kakao im Briefkasten und Diffamierung bei der Vermietungsgesellschaft bis hin zu regelmäßigem und anhaltendem Mieter-Mobbing, dem nur durch einen Rück- und damit Auszug entgegengewirkt werden kann.

Und damit ist die Kehrwoche eines bestimmt nicht: Sie ist nicht lustig. Sie ist bitterer Ernst. Oder hat man schon einmal von einem "Kehrwöchle" gehört?


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4 Kommentare verfügbar

  • Martha
    am 28.01.2014
    Antworten
    Es ist ja nicht so, dass außerhalb Schwabens nicht geputzt wird, aber da wird eben ein Putzdienst dafür bezahlt. Das wär auch garnicht schlecht, denn die Kehrwoche ist so ein Zankapfel. Aber das kam sicher daher, dass es einfach zu teuer war jemanden dafür zu bezahlen.
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