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Buch "Und nichts mehr wurde, wie es war..."

Verfolgung wird immer präsent sein

Buch "Und nichts mehr wurde, wie es war...": Verfolgung wird immer präsent sein
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Weil sie jüdisch waren, flohen die Eltern des Freiburger Rechtsanwalts Michael Moos vor den Nazis nach Palästina. Nach dem Krieg kamen sie zurück. Er selbst geriet später ins Visier des Verfassungsschutzes. Über all das hat Moos ein Buch geschrieben, das vor Kurzem veröffentlicht wurde.

Von der gut einer halben Million jüdischer Menschen, die Anfang 1933 in Deutschland lebten, konnten etwa 350.000 dem Nationalsozialismus entkommen. Von ihnen kehrten nur einige Tausend nach dem Zweiten Weltkrieg ins Land der Täter:innen zurück. Die Familie Moos aus Ulm gehörte dazu.

Erna und Alfred Moos waren schon 1933 geflohen, erst nach London, zwei Jahre später dann nach Tel Aviv, damals noch britisches Mandatsgebiet Palästina, später Israel. 1947 kam dort ihr Sohn Michael zur Welt. 1953 aber begannen sie ein neues Leben in Ulm. Es war ein gänzlich anderes Leben, als es 20 Jahre davor war: Die Nazis hatten einen Großteil ihrer Familienangehörigen und früheren Bekannten ermordet. Viele Täter:innen liefen, juristisch unbehelligt, frei herum, der Antisemitismus hatte nicht mit dem Kriegsende aufgehört, das autoritäre und völkische Denken ebenso wenig. Welche Belastungen das für die Familie bedeuten sollte, zeigte sich erst nach und nach.

Alfred Moos schrieb einige Jahre vor seinem Tod, "dass er nicht nach Deutschland zurückgekommen wäre, wenn er alles gewusst hätte." Sein Sohn Michael zitiert dies in seinem vor kurzem erschienen Buch "Und nichts mehr wurde, wie es war…". Moos hat darin seine und die Geschichte seiner Familie aufgeschrieben, ist in einem Kapitel sogar einige Jahrhunderte in die Vergangenheit gegangen, in die Geschichte des schwäbischen Landjudentums. Doch zum größten Teil geht es um die jüngste Geschichte, von der Machtergreifung der Nazis bis heute.

Was wäre wohl gewesen, wenn sein Vater alles gewusst oder geahnt hätte? Wäre das Leben der Familie besser, wäre es schlechter gewesen? "Das weiß man natürlich nicht", sagt Michael Moos im Kontext-Gespräch, "mit Sicherheit" aber wäre er selbst wohl Soldat gewesen, hätte seinem Alter entsprechend 1967 und 1973 im Sechs-Tage- und im Jom-Kippur-Krieg gekämpft. "Ich hoffe, ich würde dann zu der liberalen und linken Opposition in Israel gehört haben, wenn ich dortgeblieben wäre." Der verschachtelte Konjunktiv zeigt: Moos ist sehr bewusst, wie stark die konkrete gesellschaftliche und politische Umgebung die Entwicklung eines Menschen beeinflusst.

Er fürchtete die Fragen der anderen

Im israelischen Kindergarten Teil der Mehrheitsgesellschaft, kämpft Moos in Deutschland mit dem Anderssein. Er lernt zwar in kürzester Zeit Ulmer Schwäbisch und versucht nicht aufzufallen, doch das Gefühl, irgendwie nicht dazu zu gehören, begleitet ihn stets. "Bei uns war so vieles anders als bei meinen Klassenkameraden: Ich hatte keine Verwandtschaft, keine Cousins und Cousinen, keine Opas, nur eine kranke Oma, die bald starb", schreibt er. Seine jüdische Identität hängt er nicht an die große Glocke, fürchtet Fragen der anderen, ist unsicher und ängstlich. Dazu kommt die psychische Erkrankung der Mutter, eine "schwer fassbare Krankheit, die sich wie eine schwarze Wolke auf die gesamte Familie legte".

Trotz alledem geht Moos seinen Weg, wird schon früh politisch aktiv beim sozialistischen Jugendverband der "Roten Falken", während seines Jura-Studiums in Tübingen und Freiburg beim Sozialistischen Deutschen Studentenbund SDS. Er ist aktiver Teil der 68er-Bewegung, tritt dem KBW (Kommunistischer Bund Westdeutschland) bei, dem eine Zeitlang auch Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) angehörte. Moos bleibt in Freiburg, gründet dort eine Familie und verteidigt als Rechtsanwalt viele aus dem extrem linken Milieu, in den 1980ern auch mutmaßliche RAF-Mitglieder. Später vertritt er auch Asylbewerber:innen, wird Mitgründer der "Vereinigung Württembergischer Strafverteidiger". Zwei Jahrzehnte sitzt er ab 1999 für die Linke Liste im Freiburger Rathaus. Mit dieser Vita gerät er früh ins Visier des Verfassungsschutzes. Erst spät erfährt er, dass er von 1978 bis 2013 unter Beobachtung stand. 764 Seiten umfasst seine Akte, er klagt durch mehrere Instanzen, um herauszufinden, was über ihn gesammelt wurde.Die Seiten, die er bekommt, sind zu zwei Dritteln geschwärzt (Kontext berichtete hier und hier). 2019 erreicht er immerhin, dass das Stuttgarter Verwaltungsgericht einen Teil der Überwachung als rechtswidrig einstuft.

Moos# Buch ist sowohl eine Familie- als auch eine Gesellschaftsgeschichte, erzählt entlang der großen Konfliktlinien der letzten 100 Jahre, und nicht nur sein Thema, sondern auch der ebenso klare und sachliche wie empathische Stil machen es überaus lesenswert. Vieles ist sehr persönlich, die Beziehungen und Krisen seiner Eltern und die eigenen mit seiner Frau Friederike werden nicht ausgespart. Was auch damit zu tun hat, dass das Buch anfangs gar nicht zur Veröffentlichung gedacht war und sich Moos erst während des Schreibens dafür entschied.

Hatten manche Familienmitglieder Vorbehalte, Probleme mit solcher Offenheit? Nein, sagt Moos, da habe es nichts gegeben, er erzähle ja keinen Klatsch und Tratsch. "Für mich ist es so, dass diese privaten Geschichten durchaus ihren politischen Hintergrund haben." Besonders deutlich bei dem, was er als den "schwierigsten Punkt" in dem Buch bezeichnet, "die Erkrankung meiner Mutter".

Die Mutter litt lange nach der Verfolgung

1949 bricht bei Erna Moos die Psychose zum ersten Mal aus, da ist Michael zwei Jahre alt. Vater Alfred ist gerade in Deutschland, bereitet die Rückkehr vor. Erna Moos kommt in ein psychiatrisches Krankenhaus, bleibt dort für Wochen. "Sie war der festen Meinung, dass mein Vater in Lebensgefahr sei in Deutschland", sagt Michael Moos, "das wurde dann als Symptom einer paranoiden Schizophrenie erachtet." Doch zugleich findet er, "dass diese Angst, wenn man überlegt, wie viele Mörder vier Jahre nach Ende des Krieges frei rumliefen, durchaus einen realen Hintergrund hatte".

In Deutschland ist sie in immer kürzeren Abständen in stationärer Behandlung, muss dauerhaft Medikamente nehmen. Eine solche Erkrankung ist damals ein gesellschaftliches Tabu. Moos beschreibt, was das für die Familie bedeutet, aber auch, was für die Erkrankung ursächlich gewesen sein dürfte: Die eigene Verfolgungsgeschichte. Ein Großteil von Erna Moos' Verwandten starb in deutschen Lagern, ihrem Vater gelang zwar noch die Ausreise nach Palästina, aber er beging kurz nach der Ankunft 1939 Suizid.

Das spielte eine Rolle im Wiedergutmachungsverfahren – 1952 hatten die Bundesrepublik und Israel sich auf gesetzliche Grundlagen für materielle Entschädigungen für NS-Opfer geeinigt. In den 1950er und -60er Jahren forderte die Familie eine Entschädigung für die psychischen Leiden der Mutter. Erfolglos, einen Zusammenhang mit "nationalsozialistischen Gewaltmaßen" verneinten die zuständigen Behörden. Sohn Michael nahm das Verfahren als junger Anwalt wieder auf, nun mit Erfolg. 1983 erkannte das Landgericht Stuttgart das Leiden der Mutter als verfolgungsbedingt an. "Im Laufe der Zeit hat die Psychiatrie begriffen, dass es durchaus Erkrankungen gibt, die nicht allein endogen, also aus sich heraus sich entwickelnd sind, sondern durch äußere Umstände entweder überhaupt erst zum Ausbruch kommen oder verstärkt werden", sagt Michael Moos. "Und das ist in diesem Zusammenhang eine hochpolitische Frage."

Die Passagen, in denen Moos die Erkrankung seiner Mutter schildert, gehören zu den eindrücklichsten und bedrückendsten des Buches. Doch Moos beschreibt auch auf sehr erhellende Weise, wie sehr die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert sein Leben bestimmte. Nicht nur in Täter-Familien wurde über die Verbrechen und den Holocaust geschwiegen, auch in den Familien der Opfer. "Ich spüre noch heute, wie es mir schwerfällt, über manches zu sprechen", schreibt Moos. "In mir wird immer die Verfolgungsgeschichte meiner Familie präsent sein."

Die Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, wurde für Moos zum politischen Auftrag. Er unterstützte schon früh die KZ-Gedenkstätte Oberer Kuhberg in Ulm, engagierte sich als Gemeinderat in Freiburg lange für die Einrichtung eines NS-Dokumentationszentrums – das schließlich in diesem Jahr eröffnet wurde (Kontext berichtete).

Antisemiten seien die 68er nicht gewesen

Moos' Buch ist nicht streng chronologisch, immer wieder geht es auch um Israel, das Land, in dem er seine ersten Kindheitsjahre verbrachte. Glückliche Jahre. Der Vater wollte aber auch deswegen nicht dortbleiben, weil die dauernde Gewalt zwischen Juden und Arabern – schon vor der Staatsgründung – für ihn schwer zu ertragen war. Regelmäßig kam es zwischen Vater und Sohn zu leidenschaftlichen Diskussionen über Israel. Sein Vater habe den aggressiven und araberfeindlichen Charakter des Zionismus abgelehnt, er litt unter dem Unrecht, dass man vielen in Palästina lebenden Arabern antat. Einig seien sich beide gewesen, dass es ohne einen eigenen palästinensischen Staat keinen Frieden geben könnte.

Es ist ein nie endendes Thema. Nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 wurde immer wieder der linke Antisemitismus thematisiert, der sich mit antiimperialistischen und antikolonialen Argumenten camoufliere. Als dessen Keimzelle oder Treibhaus wird oft die 68er-Bewegung genannt – vor Jahren glaubte der Historiker Götz Aly in seiner Polemik "Unser Kampf" Gemeinsamkeiten zwischen den alten Nazis und ihren aktivistischen Kindern zu erkennen. Moos, der als jüdischer Deutscher in der Studentenbewegung aktiv war, findet die Argumentation "abstrus". "Ich habe damals die Linke erlebt als die bitterste Gegnerin des Nationalsozialismus. Wir haben uns bemüht, Dinge auf den Tisch zu bringen, die vorher nicht bekannt waren, wir haben in Freiburg Professoren konfrontiert mit ihrer NS-Vergangenheit." Sein Vater, sagt Moos, wäre demnach heute "ein linker Antisemit par excellence gewesen, weil er sich gegen den zionistischen Plan eines jüdischen Staates gewandt hatte". Für ihn selbst sei ein Antisemit jemand, "der mich hassen würde als Jude, einfach weil ich Jude bin. So wie die Nazis." Wer aber die politischen Entwicklungen in Israel kritisch hinterfrage, die massenhaften Tötungen in Gaza kritisiere und das als Genozid bezeichne, so Moos, der sei doch kein Antisemit.

Moos' Urteil über die 68er und ihre Nachfolger ist ein anderes als das von Götz Aly. Tatsächlich gingen in Deutschland nach dem Krieg, schreibt er, "die wesentlichen Veränderungen von gesellschaftlichen Bewegungen aus: Ich hatte es selbst 1968 miterlebt, dann die Häuserkampfbewegung, die Anti-AKW-Bewegung, die Frauenbewegung, der Kampf gegen Rassismus, gegen die Rechtsentwicklung und gegen Diskriminierung jeder Art: All das wurde nicht von Parteien angestoßen."

Aktiv ist er noch heute, ein Foto im Buch zeigt ihn auf einer Klimaschutzdemo 2023. Doch sowohl beim Klimaschutz als auch bei den Demonstrationen gegen rechts fühlen sich viele Aktive ohnmächtig und wirkungslos. Das sei gefährlich, sagt Moos. Bundeskanzler Merz rede immer wieder davon, die AfD in die Schranken zu weisen, "aber es passiert überhaupt nichts", im Gegenteil: Durch die Annäherungspolitik der CDU an die Rechten sei schon viel Boden verloren gegangen.

Er habe da auch kein Patentrezept, sagt Moos. Er setzt auf die Auseinandersetzung mit der Geschichte und der Frage, wie aus der Weimarer Republik in kurzer Zeit eine Diktatur werden konnte. Die Beschäftigung damit sei "keine Sache, die man machen oder lassen kann, sondern das ist zwingend nötig, wenn man die drohenden Gefahren in den Griff kriegen will." Sein Buch ist ein kleiner Beitrag dazu.
 

Michael Moos: "Und nichts mehr wurde, wie es war …" Die Geschichte der schwäbisch-jüdischen Familie Moos und mein Leben in Tel Aviv, Ulm und Freiburg, Verlag Klemm+ Oelschläger, 160 Seiten, 19,80 Euro.

Am 29.10., 19 Uhr, findet im Hotel Silber in Stuttgart (Dorotheenstraße 10) eine Autorenlesung mit Michael Moos statt, Wolfgang Schorlau moderiert. Der Eintritt ist frei, um Anmeldung wird gebeten: anmeldung--nospam@hotel-silber.de

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2 Kommentare verfügbar

  • Max Eifler
    vor 3 Tagen
    Antworten
    "Antisemiten seien die 68er nicht gewesen"
    Echt?
    Dann lag Jean Améry wohl voll daneben.
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