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NS-Zeit – Sinti und Roma in Stuttgart

Sie hatten keine Chance

NS-Zeit – Sinti und Roma in Stuttgart: Sie hatten keine Chance
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Elke Martin hat tief in Archiven gegraben und das allererste Buch zur Geschichte der Stuttgarter Sinti und Roma geschrieben. Die originalen Schriftstücke, die sie zusammengetragen hat, dokumentieren Denunziation, Verfolgung und Deportation. Die Täter wurden später nur milde abgemahnt.

Wo sich heute in einem flachen Anbau der Stuttgarter Straße 114 im Stadtteil Feuerbach ein Schuhgeschäft befindet, stand bis zum Zweiten Weltkrieg ein spätmittelalterliches Haus. Dort lebten von 1941 bis 1943 Franz und Johanna Reinhardt mit ihren fünf Kindern Josef, Rudi, Adele Jolanta, Julietta und Roswitha sowie die jüngste Schwester von Franz, Maria Adelheid.

Die Sinti-Familie hatte bereits eine Odyssee hinter sich. Sie hatte in Cannstatt, Heslach und Zuffenhausen gewohnt, bevor sie in die Forststraße 123 im Stuttgarter Westen zog. Dort rückten ihnen wenig später das Jugendamt und die Kriminalpolizei auf den Pelz, bis sie nach Feuerbach auswichen, um zu verhindern, dass ihnen die Kinder weggenommen wurden.

Die bewegte Geschichte der Familie Reinhardt hat die Stuttgarterin Elke Martin jüngst niedergeschrieben. Im Stadtarchiv Stuttgart, im Staatsarchiv Ludwigsburg und anderen Archiven hat die Autorin nach den Spuren von Sinti-Familien geforscht und nun das allererste eigenständige Werk zur Geschichte der Stuttgarter Sinti und Roma veröffentlicht. Es ist niederschmetternd, wie sich die staatlichen Behörden über die Minderheit äußerten. Und das nicht erst in der NS-Zeit: Seit 1899 wurden immer mehr "Maßregeln" zur "Bekämpfung des Zigeunerunwesens" erlassen.

"Minderwertige" Personen", "asoziale Elemente", "sittliche Verwahrlosung": Mit solchen Vokabeln bezeichneten die Ämter die Verhältnisse in der Forststraße 123. Im Dezember 1940 berieten ein Stadtrat, ein Jurist, Vertreter des Wohlfahrtsamts und des Wohnungsamts sowie ein Polizeirat über "die Frage der Austreibung der Zigeunerfamilien". Sie waren sich einig, dass diese "mit Rücksicht auf die sittliche Gefahr, die von ihnen auf die gesamte Umgebung ausgeht", möglichst rasch durchgeführt werden soll.

Die Sinti-Kinder wurden in Auschwitz ermordet

Die "Fahrnisgegenstände der Ausgetriebenen", ihr Hab und Gut, sollte beschlagnahmt und eingelagert werden, die Männer wurden in der "Beschäftigungs- und Bewahrungsanstalt" Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb untergebracht, die Frauen in einem Obdachlosenheim. Noch am selben Tag verfasste das Jugendamt einen dreiseitigen Bericht und fragte anschließend in der St. Josefspflege in Mulfingen, Hohenlohe, an, ob dort noch Platz für sieben Kinder im Alter von drei Monaten bis 14 Jahren sei. "Wegen Obdachlosigkeit" sollten sie dort untergebracht werden. Wie es den Kindern dort weiter ergieng, zeigt das Schicksal von Otto, Sonja und Thomas Kurz aus Bad Cannstatt. Sie wurden am 9. Mai 1944 mit 36 weiteren Sinti-Kindern aus Mulfingen abgeholt und nach Auschwitz deportiert. Fast alle wurden ermordet.

In Mulfingen ist das schon lange bekannt. Ein Lehrer am Deutschorden-Gymnasium Bad Mergentheim hat bereits um 1980 eine Schülerarbeit zu den Kindern betreut, deren Leidensweg er schon seit Jahren nachgegangen war. Seit 1984 gibt es dort eine Gedenktafel, seit 2000 im Stuttgarter Jugendamt, auf Initiative engagierter Mitarbeiter:innen, ein Denkmal des Künstlers Wolfram Isele. Der erste Stolperstein für Sinti und Roma in Stuttgart wurde 2006 in Bad Cannstatt verlegt: für die Geschwister Otto, Sonja und Thomas Kurz. Im selben Jahr hatte auf Initiative des Rottenburger Diözesan-Historikers Stephan Janker innerhalb den Stuttgarter Stolperstein-Initiativen das Recherchenetzwerk Sinti und Roma seine Arbeit aufgenommen.

So kam auch Elke Martin zu dem Thema. Als Kind von DDR-Republikflüchtlingen war sie in den 1950er-Jahren nach Stuttgart gekommen. Ihre Eltern starben früh. Später fand sie sich als alleinerziehende Mutter wieder. Als gelernter Industriekaufmann – sie betont das "…mann", denn so steht es in den Zeugnissen – war sie viele Jahre in einem Unternehmen tätig, dessen Belegschaft zunehmend schrumpfte. Sie stieg aus – und fragte sich, was sie nun tun könnte.

Da stieß sie in der Feuerbacher Zeitung auf eine Anzeige der Stolperstein-Initiative: "Mithilfe im Archiv gesucht". Sie lernte Peter Grohmann vom Stuttgarter Bürgerprojekt Die Anstifter kennen, arbeitete dort "ehrenamtlich und bezahlt" und beschäftigte sich mit den Euthanasieopfern. Irgendwann meinte Grohmann: "Elke, du machst jetzt ein Buch!" Das erschien 2011 unter dem Titel "Verlegt. Krankenmorde 1940-41 am Beispiel der Region Stuttgart".

Die Sprache: ausgrenzend und erniedrigend

Nun ist ihr zweites Büchlein erschienen: 62 Seiten im Verlag Regionalkultur, herausgegeben vom Stadtarchiv. Die Buchvorstellung Ende Februar war gut besucht. Daniel Strauß, der Landesvorsitzende des Verbands der Sinti und Roma, konnte wegen eines Trauerfalls nicht kommen, ließ es sich aber nicht nehmen, per Video wärmste Worte zu sprechen. Das Interesse ist groß, die Broschüre, in kleiner Auflage, bereits vergriffen. Daher stellt das Stadtarchiv sie nun online zur Verfügung.

Elke Martin weiß wesentlich mehr, als sie in ihrer Publikation ausführt. Für die Gedenkstätte "Zeichen der Erinnerung" hat sie die 260 Namen der Sinti und Roma recherchiert, die am 15. März 1943 vom Stuttgarter Nordbahnhof aus nach Auschwitz deportiert wurden. Darunter befanden sich mindestens 34 Stuttgarter, von denen nur fünf überlebten. Sie gehört heute zum Vorstand des Gedenkstätten-Vereins und ist mit Überlebenden und ihren Nachfahren befreundet.

Anhand originaler, in der Broschüre abgebildeter Schriftstücke zeigt sie, wie sich die jahrhundertelange Verfolgung der Sinti in Stuttgarter Archivalien bemerkbar macht: Da gibt es bereits 1903 einen Erlass des württembergischen Innenministeriums "betreffend Maßregeln gegen die Zigeuner" und zwei Jahre später eine Verfügung "betreffend das Verbot des Zusammenreisens der Zigeuner in Horden". Die Sprache dieser Dokumente ist durchweg ausgrenzend und erniedrigend. Mit einer "Zigeunermeldekarte", dem Titelbild der Publikation, riefen die Ämter beispielsweise zur Denunziation auf.

Die Sinti hatten keine Chance. Um einem Wandergewerbe etwa als Pferdehändler nachzugehen, benötigten sie einen Lagerplatz. Doch kaum waren sie da, suchten die Kommunen nach Wegen, sie wieder loszuwerden. Um einen Wandergewerbeschein zu erhalten, mussten sie einen festen Wohnsitz nachweisen. Sobald sie aber eine Wohnung gefunden hatten, was aufgrund der massiven Vorurteile extrem schwierig war, machten sich die Behörden spätestens in der NS-Zeit daran, sie wieder "auszutreiben". Wie im Fall der Reinhardts.

Elke Martin benennt auch die Täter

1930 hatte Karl Reinhardt, der Vater von Franz, Schrotthändler und Musiker, in Kirchheim unter Teck ein Grundstück erworben. Die Gemeinde traktierte ihn mit Bußgeldbescheiden und machte ihm das Leben zur Hölle, bis er kapitulierte. "Zermürbt durch den Rechtsstreit stimmte die Familie dem Zwangsverkauf zu", resümiert Elke Martin. "Allerdings reichte der Verkaufspreis gerade aus, die aufgelaufenen Bußgelder und Strafzahlungen zu begleichen."

Martin zeichnet ein differenziertes Bild. Sie benennt auch die Täter: Adolf Scheufele, leitender Sachbearbeiter der "Dienststelle für Zigeunerfragen" der Kriminalpolizei, drangsalierte die Sinti und überwachte persönlich am 15. März 1943 ihren Abtransport nach Auschwitz. Darunter auch die komplette Familie von Franz und Johanna Reinhardt aus Feuerbach, von denen keine:r überlebte.

Scheufele war auch für die Deportation der 39 Kinder von Mulfingen nach Auschwitz verantwortlich und damit für den Mord an mindestens 300 Menschen. Die Spruchkammer jedoch befand nach dem Krieg im Jahr 1946, er habe sich "nicht von nationalsozialistischen Maximen leiten lassen" und stufte ihn nur als Mitläufer ein. Die verhängte Geldbuße von 200 Reichsmark empfand Scheufele als "übergroße Härte". Ab Mai 1947 war er wieder Sachbearbeiter der Kriminalpolizei: zuständig für die Verfolgung der Sinti und Roma.

Martin kommt aber auch auf Konrad Reinhardt zu sprechen, den Sinto, der mit Scheufele zusammenarbeitete. Sie nannten ihn Masengro, den Metzger, weil sie ihn verdächtigten, die Listen der Deportierten aufgestellt zu haben. Das kann so nicht ganz stimmen, meint sie, weil er nicht schreiben konnte. Anton Reinhardt wiederum, den Scheufele immer wieder bedrängte, sich sterilisieren zu lassen, überlebte. Sein Sohn Peter kennt wie kein anderer die Geschichten der Überlebenden

"Der Zigeuner wurde regelmäßig nur dann Objekt nationalsozialistischer Gewalt, wenn er als kriminell oder asozial galt", urteilte 1949 der spätere Richter am Bundesgerichtshof Hans Wilden. Diese Feststellung ist zwar nicht falsch, aber zynisch, da "Zigeuner" grundsätzlich als kriminell und asozial angesehen wurden. "Seine Rasse bildete nicht den Anlass der Verfolgung", fährt der damalige Oberregierungsrat haarspalterisch fort, ganz in der Logik der Verfolger, "sondern wurde lediglich als Ursache seines asozialen Verhaltens betrachtet."

Nicht alle dachten so. Elke Martin erwähnt den Feuerbacher Pfarrer Fritz Majer-Leonhardt. In der NS-Zeit selbst wegen seiner jüdischen Mutter als "Mischling ersten Grades" diskriminiert, leitete er von 1945 an eine "Hilfestelle für Rasseverfolgte". Später half er zahlreichen Sinti und Roma, in Feuerbach oder Zuffenhausen eine Wohnung zu finden.


Mit den überlebenden Sinti haben die Roma aus Osteuropa, die heute das Bild der Minderheit prägen, nur wenig zu tun. Für sie richtet die Bürgerstiftung derzeit in Bad-Cannstatt ein Mutter-Kind-Zentrum ein. Und für sie engagiert sich auch Nelly Eichhorn, die Leiterin des Theater am Olgaeck, das vom 28. März bis zum 26. April das größte europäische Festival zur Kultur der Sinti und Roma veranstaltet. Neben Filmen und Musik aus verschiedenen Ländern ist auch der Stuttgarter Sinto-Gitarrist Romano Guttenberger wieder dabei. Und das beliebte Stück über den Sinto-Boxer Rukeli Trollmann steht auch auf dem Spielplan.

Zum Programm des Roma-Tag-Festivals geht es hier.

Im Kulturzentrum Romno Kher in Mannheim eröffnet am 8. April, 17 Uhr, eine Ausstellung mit "Fotografien unserer Perspektiven", aufgenommen von jungen Menschen aus dem Romno-Power-Club der Hildegard Lagrenne Stiftung. Sie sind entstanden im Projekt "Klickwinkel" des International Rescue Committee (IRC), das 16- bis 27-Jährige einlädt, ihre eigene Umgebung zu erkunden.

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1 Kommentar verfügbar

  • Gun Wille
    am 31.03.2025
    Antworten
    Glücklicherweise hatten nicht alle bedeutenden Personen im Lande gleichartig dämliche Ansichten wie Herr Wilden. Roman Herzog, damals Bundespräsident, äußerte sich 1977 wie folgt:
    "Der Völkermord an den Sinti und Roma ist aus dem gleichen Motiv des Rassenwahns, mit dem gleichen Vorsatz und dem…
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