Im Dezember 1948 ging Emil Hessenthaler in Marseille an Bord eines Schiffes, das ihn nach Israel brachte. Der 34-Jährige, geboren 1914 in Stuttgart-Feuerbach, hatte sich unter die überlebenden Jüdinnen und Juden gemischt, die den Terror der Nazis in Europa überstanden hatten und in Israel ein neues Leben beginnen wollten. Viele von ihnen hatten alles verloren und daher keine Papiere – wie auch Hessenthaler. Und so ersann er eine Geschichte, die es ihm ermöglichte, seinen alten Namen zu tragen und sich doch als ein anderer auszugeben.
"Mein Vater erzählte, er sei ein jüdischer Junge aus Stuttgart und habe mit Emil Hessenthaler in Spanien gegen die Faschisten gekämpft", erzählt seine Tochter Deborah Tal-Rüttger. "Dort sei Hessenthaler gefallen, und er habe dessen Papiere an sich und seine Papiere den Toten gegeben." Als Begründung habe er gesagt, dass er als Antistalinist Informationen über die Rolle des sowjetischen Geheimdiensts im republikanischen Spanien gesammelt habe und sich vor der Rache der sowjetischen Behörden schützen müsse. An dieser Geschichte hatten weder seine Frau, eine in Stuttgart geborene Jüdin, die er in Israel heiratete, noch seine Tochter gezweifelt. Erst nach seinem Tod 1989 begann Tal-Rüttger, Nachforschungen anzustellen. "Da stellte sich heraus, dass mein Vater nicht nur den Namen von Emil Hessenthaler trug. Er war Hessenthaler."
Eine Erkenntnis, die sie erst einmal verdauen musste. "Spontan war ich wütend und traurig. Wie konnte er meine Mutter so belügen?", schildert Tal-Rüttger ihre erste Reaktion, als sie das Versteckspiel ihres Vaters enttarnt hatte. Doch die Wut ließ nach. "Mit der Zeit habe ich ihn mehr und mehr verstanden und bin nur traurig, dass wir nicht miteinander darüber reden können."
Die 74-jährige Deborah Tal-Rüttger ist ehemalige Lehrerin, sie engagierte sich beim Aufbau der Jüdischen Liberalen Gemeinde Region Kassel und war Mitglied im Vorstand der Union Progressiver Juden in Deutschland. Als Rentnerin ist ihr es ein wichtiges Anliegen, die Wahrheit über ihren Vater zu erkunden. Mittlerweile hat sie sich tief in seine Biografie eingearbeitet. "Die Nachforschungen waren sehr mühsam", betont Tal-Rüttger. Sie besuchte alle noch lebenden Verwandten und verbrachte viel Zeit in Archiven in Schweden und Deutschland, um den wenigen Spuren ihres Vaters zu folgen.
Vor den Nazis floh Hessenthaler erst ins Saarland
Viel war es nicht, was bisher über Emil Hessenthaler bekannt war. Nur, dass er sich schon als Jugendlicher in seiner Heimatstadt Stuttgart gegen die Nazis engagierte und an der Fällung der Hitler-Eiche in Feuerbach beteiligt gewesen sein soll. Vor der drohenden Verfolgung ist er mit 20 Jahren in das Saarland emigriert. Das damals noch vom Völkerbund verwaltete Gebiet wurde für viele Nazigegner:innen zum ersten Zufluchtsort.
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