Das Tagebuch sei eine seltsame Kunstform, die der menschlichen Fähigkeit geschuldet sei, "Zwiesprache mit sich selbst zu halten", schreibt der Schriftsteller Daniel Dubbe in seiner unlängst erschienenen Biografie des Büchnerpreisträgers Hans Erich Nossack (1901 bis 1977), der ebenso wie Anna Haag (1888 bis 1982) in der NS-Zeit Tagebuch geführt hat. Wie Haag hat auch Nossack das NS-Regime abgelehnt, und natürlich blieben ihre Tagebücher geheim. Den VerfasserInnen wäre es sonst schlecht ergangen. So weit die Gemeinsamkeiten.
Wichtiger sind die Unterschiede: Nossack, 1901 in eine Hamburger Kaufmannsfamilie geboren, war 1922 aus der schlagenden Verbindung "Thuringia" ausgestiegen, um sich den Kommunisten anzuschließen. Er fühlte sich vom Leben abgeschnitten. "Das Tagebuchschreiben ist für N. die Kompensation seiner Unfähigkeit, sich mitzuteilen", analysiert Dubbe, "und es ist auch ein Ausgleich für das Fehlen eines Gegenübers." Nossack, der Literat, konnte erst nach 1945 publizieren. Doch der "wirkliche Nossack", so Dubbe, "das Kunstwerk der selbstverfaßten Ichs, findet sich in den Tagebüchern."
Ganz anders bei Anna Haag. Dreizehn Jahre älter als Nossack, hatte sie in Bukarest, wo ihr Mann an der deutschen Schule unterrichtete, 1912 Zeitungsartikel und Kurzgeschichten zu schreiben begonnen, 1926 gefolgt von dem Roman "Die vier Roserkinder. Geschichten aus einem Waldschulhaus", in dem sie ihre eigene Kindheit verarbeitet. Unmittelbar nach dem Krieg machte sie sich daran, einen Auszug ihrer handgeschriebenen Notizen zu einem 500-seitigen Typoskript zu verarbeiten, das sie ohne Erfolg mehreren Verlagen anbot.
Sie schrieb also nicht nur "zu sich selbst" oder für die Zeit nach ihrem Ableben, sondern letztlich, wie seinerzeit aus Rumänien, um Außenstehende über die Verhältnisse im Nazi-Deutschland zu unterrichten. Nur, dass nach dem Krieg davon niemand etwas wissen wollte. Nach ihrer Autobiografie 1968 und einigen weiteren Anläufen erblickt das vollständige Typoskript erst jetzt, 29 Jahre nach ihrem Ableben, das Licht der Öffentlichkeit.
Was ist das Besondere an diesen Tagebüchern?
Haags Tagebücher sind eine außergewöhnlich interessante Quelle zur NS-Zeit. Nicht nur weil sie Kritik übt, was der Rezensent in SWR2 Kultur "wirklich erstaunlich" findet. "Ein ungeheuer eindrucksvolles, atemberaubendes Dokument", meint Götz Aly in der "Stuttgarter Zeitung", ein "atemberaubendes Zeitzeugnis" fast gleichlautend Florian Felix Weyh im Deutschlandfunk. Was ist so atemberaubend, was ist das Besondere an diesen Tagebüchern? Anna Haag war nicht die einzige Regimegegnerin.
Immer wieder werden ihre Tagebücher mit denen von Victor Klemperer verglichen, dem protestantischen Literaturwissenschaftler jüdischer Herkunft, der aufgrund der Dresdner Bombennächte der Deportation entging. Ein etwas schiefer Vergleich. Klemperer hat schon viel länger, von 1919 an, Tagebuch geführt. Er hat die "Lingua Tertii Imperii", die Sprache des "Dritten Reichs" wissenschaftlich analysiert.
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Jue.So Jürgen Sojka
am 18.05.2021Die…