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Flecken auf der Blumenpracht

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Mehr als eine Million Touristen besuchen jährlich die Blumeninsel Mainau. Das geht momentan wegen Corona nicht. Dafür bleibt Zeit, um über etwas nachzulesen, was sich zwischen der Blütenpracht versteckt. Ein Stück NS-Geschichte, an das sich die Grafenfamilie Bernadotte lange nicht erinnern wollte.

"Im Park trifft man fast überall auf Männer mit rasiertem Schädel, fremdartigem Blick, ihre Kleider flattern um ihre schrecklich abgemagerten Glieder. Sie irren umher auf der Suche nach ich weiß nicht was, zweifellos auf der Suche nach sich selbst", zitiert der Konstanzer Historiker Arnulf Moser aus dem Bericht des Reporters J.-M. Darracq vom 5. Juni 1945, abgedruckt in der französischen Zeitung "Libres". Nachzulesen sind die Zeilen in Mosers neu aufgelegtem und erweitertem Buch "Die andere Mainau 1945 – Paradies für befreite KZ-Häftlinge".

Die Geschichte: Tausende von französischen Häftlingen aus dem deutschen Konzentrationslager Dachau bei München mussten nach der Befreiung die von den Amerikanern verhängte Typhus-Quarantäne abwarten. Die gesundheitlich am schwersten Getroffenen kamen auf Anweisung des Generals Jean de Lattre de Tassigny auf die Insel Mainau, die im Mai 1945 von den Franzosen beschlagnahmt wurde und für sie eine besondere Bedeutung hatte. "Als Krankenstation für befreite KZ-Häftlinge war sie ein Versuch, nationalsozialistisches Unrecht zu bewältigen. Zugleich war sie ein politisches Aushängeschild, das wichtigen Besuchern der Besatzungszone vorgeführt wurde", schreibt Moser (77) in seinem Buch, das sich auf Berichte ehemaliger Häftlinge sowie auf Quellen aus den Archiven der französischen Armee und des Außenministeriums in Paris stützt. 

300 Betten für schwerkranke Häftlinge auf der Mainau

Die Ausgangssituation bei der Befreiung von Dachau hatte nach einem Bericht des Militärarztes C. Gonnet in der Zeitschrift "La Presse Médicale" vom 19. Januar 1946 so ausgesehen: Es waren 4258 gesunde und 1532 kranke Franzosen vor der Heimreise zu betreuen. Bereitgestellt waren 300 Betten für schwerkranke unterernährte Häftlinge auf der Mainau, 2000 Plätze für eher Gesunde auf der Insel Reichenau, wo sie sich erholen beziehungsweise die Quarantänezeit abwarten sollten, und 1000 Betten im Krankenhaus Reichenau für Häftlinge mit ansteckenden Krankheiten. Gemeint ist die leer stehende ehemalige Heil- und Pflegeanstalt Reichenau auf dem Festland, wo zuletzt eine NS-Elitesschule bestanden hatte.

Im Sommer 1945 starben 33 der ehemaligen KZ-Häftlinge auf der Mainau. Auf der Südostseite der 45 Hektar großen Insel wurde damals ein Friedhof angelegt. Als Lennart Bernadotte, der sogenannte "Herr der Mainau", 1946 aus Schweden zurückkam, verlangte er die Verlegung der Gräber auf den französischen Teil des Konstanzer Hauptfriedhofs. Die Stätte und die Erinnerungen an die NS-Vergangenheit waren ihm offenbar unangenehm. So wurden die Toten im Frühjahr 1946 umgebettet, zusammen mit 90 Buchs- und Taxusbäumen, für die Bernadotte Schadensersatz von der Stadt Konstanz verlangte. Er selbst verbrachte die Kriegszeit in Schweden. 1943 hatte er seine Insel für monatlich 5000 Reichsmark an die Organisation Todt, die bautechnische Abteilung im deutschen Rüstungsministerium, verpachtet.

All das zusammenzutragen war nicht einfach. "Als ich Anfang der 1990er-Jahre an dem Mainau-Buch gearbeitet habe, hat mir das Staatsarchiv in Freiburg die Einsicht in manche Akten verwehrt, weil sie angeblich zu viele private Dinge über Graf Bernadotte enthalten. Heute sind die Akten zugänglich", erzählt Autor Moser. Als das Buch 1995 erschien, schlugen er und Brigitte Weyl, damalige Geschäftsführerin der UVK-Verlagsgesellschaft Konstanz, der Grafenfamilie Bernadotte vor, auf der Insel eine Gedenktafel anzubringen. "Man hat uns kühl abblitzen lassen", erinnert sich der Historiker. Ähnlich erging es Claus-Dieter Hirt, dem Präsidenten der Deutsch-Französischen Vereinigung in Konstanz. In seinem und Daniela Freys Buch "Französische Spuren in Konstanz. Ein Streifzug durch die Jahrhunderte", das 2011 vorgestellt wurde, schwieg sich die offizielle Mainau über diese Jahre aus. "Keinerlei Spuren sollten offensichtlich an die dunklen Kapitel der Blumeninsel im Bodensee erinnern", resümieren Frey und Hirt. Ein Offener Brief verstärkte anschließend den Druck auf die Mainau.

Vor großem Imageverlust

Erst als auch überregionale Zeitungen wie die FAZ oder der Züricher "Tages-Anzeiger" kritisch darüber berichteten, war klar, dass die Grafenfamilie reagieren musste, um einen massiven Imageverlust zu verhindern. Sie setzte eine Historikerkommission ein, der Experten der regionalen Zeitgeschichte (Prof. Dr. Lothar Burchardt, Dr. Tobias Engelsing und Prof. Dr. Jürgen Klöckler) angehörten. Auf ihren Rat hin wurde tatsächlich ein Denkmal für die verstorbenen Häftlinge geschaffen und am 18. November 2012 eingeweiht, an der Stelle, wo sich 1945 der provisorische Friedhof befunden hatte. Das Denkmal besteht aus drei grauen Granitstelen aus der Bretagne mit einem Spruch des Dichters Antoine de Saint-Exupéry: "Mensch sein heißt verantwortlich sein". Dazu gehört eine Informationstafel mit den Namen der Verstorbenen, deren Lebensdaten ermittelt werden konnten.

Autor Moser verweist aber auch darauf, dass eine Blumeninsel in kürzester Zeit in ein Notspital umgewandelt werden konnte, dem "Hunderte von schwerkranken Opfern des NS-Regimes ihr Überleben verdanken". Dieses Gesicht wiederum haben die Franzosen gerne den internationalen Delegationen vorgeführt, die aus amerikanischen Generälen, Ministern und Gemeinderäten aus Paris, dem Sultan von Marokko bestanden, und die stets dasselbe Programm geboten bekamen: Militärparade in Konstanz, großes Essen im Insel-Hotel und Besuch bei den Häftlingen auf der Mainau. Der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, Henri Guisan, soll ihnen sogar Stumpen und Schokolade mitgebracht haben. 

Die schwierigste Aufgabe für die Kommission war die Untersuchung der Einstellung von Bernadotte zum Nationalsozialismus. Sie konnte dabei auf Dokumente zurückgreifen, die vorher nicht zugänglich waren: die Tagebücher des Grafen, Unterlagen aus dem Schwedischen Reichsarchiv in Stockholm und dem Archiv des französischen Außenministeriums in Paris. Vorgestellt hat das Gremium sein Gutachten im Februar 2014 und im Herbst 2014 in den Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees veröffentlicht. Fazit: Es entlastet Bernadotte vom Vorwurf der Nähe zum Nationalsozialismus.   

"Eine Zeit, die ich am liebsten vergessen möchte"

Als das Buch 1995 erstmals erschien, sprach der deutsche Historiker Fabio Crivellari in der Konstanzer Lokalzeitung "Südkurier" auch das Thema einer Gedenktafel für die verstorbenen KZ-Häftlinge aus Dachau an. "Die Anregung war zu diesem Zeitpunkt völlig irreal", befand Moser, denn genau ein Jahr später habe Bernadotte in seinen Memoiren massiv die französischen Besatzer kritisiert, von denen er sein Eiland verwüstet und geplündert sah. Bernadotte: "Eine Zeit, die ich am liebsten vergessen möchte." 
 

Arnulf Moser: Die andere Mainau 1945 – Paradies für befreite KZ-Häftlinge, Hartung-Gorre Verlag Konstanz, 2020, 19.80 Euro. Die Neuauflage liefert auch die Kurzbiografien der Toten, die bisher nur mit Namen und Sterbedatum publiziert waren. "Jetzt hat man auch die Haftgründe, die ganze Bandbreite von politischer Repression in Frankreich, und die verschiedenen Haftstationen, die diese Franzosen in Frankreich und Deutschland durchgemacht haben", sagt Moser.


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