Es ging keine Nummer kleiner. Es musste das erste Haus am Platze sein, das "Hotel Adlon" mit seinem Luxus, seinen Butlern, den dicken Teppichen, den geschliffenen Spiegeln, den kristallenen Lüstern und den opulenten Blumenbuketts mit den schwindelerregenden Preisen. Schon allein dass der siebente Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland dieses Ambiente wählte, um seine Landsleute als leistungsunwillig, technikfeindlich, bequem, träge geworden, denkfaul und befallen von einer "unglaublichen mentalen Depression" abzukanzeln, zeigt, wes Geistes Kind der Niederbayer war. Und dass die Mehrheit der Meinungsmacher zwischen Nord- und Bodensee dem 62-Jährigen eifrig applaudierte, statt sich an Hans Christian Andersens "Des Kaisers neue Kleider" zu erinnern, zeigt nur, wer die Gardinenpredigt eigentlich wirklich verdient hätte. Aber selbst als Herzog im vergangenen Januar verstarb, wurden ihm noch einmal Kränze geflochten – für eine Diagnose des erst sieben Jahre zuvor wiedervereinigten Deutschland, die ein groteskes Horrorgemälde entwarf.
Endlich, so war aber und ist noch immer oft genug zu lesen und zu hören, habe da mal einer und dann gleich der erste Mann im Staate unverblümt ausgesprochen, was angeblich niemand mehr sich zu sagen traute. Heraus kam eine Philippika gegen eine vermeintlich gelähmte, mutlose Gesellschaft in einem Land, das in typisch deutscher "Regulierungsgründlichkeit" unterzugehen drohe. Und mit dem es böse enden werde, wenn nicht endlich der verlangte Ruck durch sie gehe. Gewiss, die Arbeitslosigkeit war mit 4,7 Millionen hoch anno 1997, der Langzeitkanzler Helmut Kohl verbreitete nach 15 Jahren Verdruss, und auch sonst gab es einige ernsthafte Probleme. Aber viele andere Fakten, die wie Deutschlands Top-Platzierungen in der Wirtschaft, die ungebrochene Reiselust oder der EM-Titel der Fußballer, die nicht ins Lamento über den allgegenwärtigen Pessimismus passen wollten, schienen Herzog nicht zu beeindrucken.
7 Kommentare verfügbar
Eeric Raasch
am 01.05.2017Gut, dass man rückwärts klarer sieht. Bleibt die Schwierigkeit mit der aktuellen Propaganda. Die aktuelle ist immer die am schwierigsten zu…