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Im Reich der Deutungshoheit

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Elisabeth Wehling erforscht, wie Sprache das Denken und Handeln beeinflusst. Gerade in der Politik ist das sogenannte Framing gang und gebe. Für Wehling ist klar: "Wer die Werte von nationalistischen Gruppen nicht teilt, der sollte sie nicht sprachlich propagieren."

Frau Wehling, seit in den USA mit sogenannten alternative facts hantiert wird, steht George Orwells Roman "1984" wieder hoch im Kurs. Wie erklären Sie sich das?

Es hat wohl Zugkraft, weil es Menschen in ihrem Bauchgefühl bestätigt, dass Sprache direkt in unser Denken und Miteinander eingreift. Literatur kann solche Wahrheiten oft besser darstellen als wissenschaftliche Abhandlungen – spielerischer, reichhaltiger.

Orwell wurde selbst von den Geheimdiensten beobachtet. In seinem Roman "1984" bestimmt die Führung "Die Naturgesetze machen wir", weil man sich von den im neunzehnten Jahrhundert etablierten Vorstellungen der Naturgesetze freimachen müsse. Die Erkenntnisse der Kognitionsforschung von Ferdinand de Saussure bis Jean-François Lyotard zeigen, dass die Mächtigen das mittels Sprache längst getan haben. Wie beeinflusst sie das Denken und umgekehrt?

Sprache definiert Bedeutung, damit das Handeln. Wer Macht und Einfluss hat, kann Sprache gestalten und damit Deutungshoheit erlangen. Wenn man die Geschichte zurückverfolgt, hat es immer unterschiedliche Narrative, also Geschichten gegeben, die unter anderem dazu dienten, die eigene Macht zu erhalten. Dass Sprache Macht bedeutet, ist keine Neuerfindung der letzten Jahrzehnte. Neu ist aber, dass wir heute in der Kognitionsforschung die dezidierten kognitiven und neuronalen Abläufe hinter der besonderen Macht von Sprache aufdecken. Forschung und Wissenschaft müssen diese wichtigen Erkenntnisse verständlicher an die Öffentlichkeit bringen.

"Politisches Framing" lautet der Titel ihres Buches. Wie funktionieren politische Rahmen?

Wir alle haben Frames im Kopf. Das sind Deutungsrahmen, die unser Denken strukturieren, und zwar basierend auf unserer gesammelten Welterfahrung. Hören oder lesen Sie beispielsweise ein Wort, dann wird im Gehirn die Region angeworfen, die damit assoziierte Handlungen oder Eindrücke verarbeitet. Zimt aktiviert etwa die Hirnregionen, die für das Riechen zuständig sind.

Was bedeutet das für den Begriff politisches Framing?

Jedwedes Handeln von Bürgern in einer Demokratie ist im weitesten Sinne politisch relevant – wie wir Kinder erziehen und mit Freunden reden, ob wir ein bestimmtes Produkt kaufen oder einen Leserbrief schreiben. Und Sprechen ist immer Handeln. Ich kann von Steuerlast sprechen, darin steckt bereits eine Wertung, nämlich das Abwerten von Steuern. Oder ich kann – neutral – von Steuersumme sprechen. Ich kann das Wort Flüchtlinge nutzen und damit Frauen auf der Flucht gedanklich ausklammern, denn das Wort ist im Deutschen männlich. Oder ich kann neutral von Geflüchteten sprechen und damit der Realität gerecht werden, dass auch Frauen zu uns flüchten. Wir müssen uns bewusst sein, welche Bilder Wörter in unserem Kopf auslösen, ob kalte Progression, Klimawandel oder Alterspyramide.

Hat jede Partei ihren sprachlichen Codes wie sie – nach Soziologen und Sprachwissenschaftlern – soziale Schichten, Dialekte oder Regionen haben?

Ja. Allerdings muss man die Sprache von Kulturen oder Subkulturen und regionale Dialekte ein Stückweit unterscheiden vom Sprechverhalten im politischen Miteinander.

Was ist der Unterschied?

Was eine politische Gruppe ausmacht, sind ihre Werte, ihre Ideologie. Insofern ist politische Sprache besonders darauf angewiesen, die jeweils eigene Ideologie unmissverständlich zu vermitteln. Und weil Sprache die intimste Bindung zwischen Wählern und Parteien ist, und ultimativ zu demokratischer Ermächtigung führt, sind wir alle ganz besonders auf saubere, ehrliche politische Sprache angewiesen. Beispiel: Wenn ich von einkommensschwachen Haushalten spreche, sehe ich das Problem des Einkommens bei den Arbeitenden. Wenn ich aber von entlohnungsschwachen Unternehmen spreche, sehe ich das Problem des Einkommens bei den Unternehmen, die Arbeitsleistungen beziehen. Gutes, ehrliches politisches Framing bedeutet Klartext reden. Es muss schnell und deutlich vermitteln, wer für welche politische Prämissen und Vorschläge steht. In der Regel prallen da die strenge und fürsorgliche Ideologie aufeinander.

Das bedeutet?

Die Ideologieforschung meint mit fürsorglicher Ideologie ein Weltbild, in dem es vornehmlich darum geht, dass man Menschen mit Empathie und Toleranz begegnet und für jeden gesorgt ist. Werte wie Respekt und Teilhabe spielen eine zentrale Rolle. Man erkennt die Meinung anderer an, auch wenn sie der eigenen widersprechen. Das strenge Weltbild hebt dagegen Werte wie Disziplin, Wettbewerb, Belohnung und Bestrafung, absolute Autorität und eine moralische Hierarchie zwischen Menschen hervor.

Warum springen dann Menschen auf die sogenannten alternativen Fakten von vornehmlich männlichen Machtmenschen an?

Bürger mit einer strengen Ideologie ignorieren Unwahrheiten oftmals schlichtweg, wenn sie von jemandem kommen, den sie bereits als politische Führungsfigur – und damit als absolute Autorität – anerkannt haben. Das ist zum Beispiel bei US-Präsident Donald Trump so. Er spricht in seinen Mitbürgern die strenge Ideologie an – als autoritärer Big Daddy, dem die Bürger und Unternehmen – manchmal gar andere Länder – absoluten Gehorsam schulden. Was er sagt, ist richtig. Was andere sagen, ist falsch. Auch das ist ein Parameter der ganz klassischen strengen Ideologie: Wer oben in der Hierarchie steht, hat Recht, denn er hat es im offenen Wettkampf nach ganz oben geschafft, was ihm eine naturgegebene, objektive Autorität verleiht. Andere, vor allem jene, die ihm widersprechen, haben Unrecht. Wer Unrecht hat, darf nach der strengen Ideologie mit allen Mitteln bekämpft werden – auch Folter, wie Trump es ja etwa in den Raum stellt. Wer in den USA "streng" über die Welt denkt, der verehrt Trump und stellt seine Autorität nicht in Frage.

Sind für diese Fans alternative Fakten keine Lügen?

Es gibt relativ viel Forschung zu der Frage, was Menschen als Lüge einordnen. Beispiel: Wenn es um das gesellschaftliche Miteinander geht, etwa jemand ein Kompliment macht, obwohl er anders denkt, dann ist die Intention der Unwahrheit pro-sozial – und wird nicht als klassische Lüge eingestuft. Lügen beginnt für viele dort, wo die Intention des Sprechers, der unwahre Dinge sagt, ist, anderen zu schaden oder sich einen Gewinn zu verschaffen. Wer sogenannte alternative Fakten zielgerichtet nutzt, um sich Vorteile zu verschaffen oder anderen zu schaden, der lügt also im Sinne der Kognitionsforschung. Dazu kommt bei Menschen mit einer strengen Ideologie wie gesagt: Man stellt Autoritäten nicht in Frage, in der Politik und anderswo. Nach dem Motto: Vater hat immer Recht. Wer Trumps strenges Weltbild teilt, der hat oft keinen Grund, den Präsidenten in Frage zu stellen.

Die sozialen Medien tragen zur Information, aber auch zur Desinformation bei – und einem Leben in der Filterblase ständiger Selbstbestätigung ...

Ja, es ist wie in der Echokammer, und das ständige Wiederholen ein und derselben Ideen stärkt diese im Kopf der Menschen. Die Wissenschaft spricht hier von Hebbian Learning: Sprachliche Wiederholung verändert das Gehirn physisch. Je öfter wir Dinge denken, desto wahrer und relevanter werden sie für uns – auch, wenn sie im echten Leben nicht besonders relevant sind. Und was früher ein Gespräch im Freundeskreis war, ist heute eben das Internet und die sozialen Medien – was im Zweifelsfalle die Dauerbeschallung mit dem eigenen Weltbild bedeuten kann. Das Internet von heute bringt auch andere Probleme mit sich. Zum Beispiel führt das Konsumieren von Gewalt im Netz – von Hasskommentaren bis zu Köpfungsvideos – zu einer Abstumpfung und Empathielosigkeit, die der Gesellschaft nicht guttun.

Ist die Demokratie in Gefahr?

Naja, man sollte die Kirche im Dorf lassen. In Deutschland allemal. In den USA ist es vielleicht ein wenig kritischer, weil mit Trump ein Präsident an der Macht ist, der unter anderem unmissverständlich manche demokratischen Kontrollmechanismen angreift. Wir müssen einfach sehen, wie sich hier alles entwickelt. In Europa geht gerade ein Ruck durch die Gesellschaft, viele Menschen werden politischer, auch als Antwort auf die nationalistischen Töne der Rechtspopulisten.

Wie können wir diesen politischen ideologischen Mustern und Bildern entgegentreten?

Wer die Werte von nationalistischen Gruppen nicht teilt, der sollte sie nicht sprachlich propagieren. Sprich: Hände weg von den Schlagwörtern des politischen Gegners! Stattdessen sollte man der eigenen Weltsicht eine klare Stimme geben. Wer mit den Wertevorstellungen der AfD ein Problem hat, etwa weil Menschen als nicht in ihrer Würde gleich wahrgenommen werden, der sollte auf genau diese Punkte hinweisen. Jeder kann in der Politik diejenigen Inhalte und Probleme, die ihm besonders wichtig sind, zum Thema machen. Ein möglicher Inhalt ist das Problem menschenfeindlicher Einstellungen in Deutschland und die Frage, wo solche Denkmuster herrühren und wie sie die Werte der Empathie und Freiheit gefährden, auf denen unser Miteinander aufbaut.

Sollte das also auf den Lehrplänen stehen?

Jeder sollte wissen, wie das eigene Denken funktioniert und welche Rolle eine saubere, ehrliche Sprache für das demokratische Miteinander spielt. Das sollte Inhalt im Schulunterricht sein. Und Werte wie die Empathie kann man bereits im frühen Kindesalter fördern. Und wer beruflich in besonderem Maße für unsere Demokratie relevant wird – wer etwa in die Politik oder den Journalismus geht –, der sollte neben den Grundkenntnissen zu Gehirn, Sprache und Entscheiden auch die moderne Werte- und Ideologieforschung kennen, um Sprech- und Denkmuster im öffentlichen Diskurs oder auch einfach nur die eigene Programmatik besser zu durchdringen.

 

Die Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin Elisabeth Wehling forscht und lehrt in den USA an der University of California Berkeley. Ihr Buch "Politisches Framing. Wie eine Nation sich ihr Denken einredet – und daraus Politik macht" schlug 2016 Wellen. Erschienen im Halem-Verlag, 224 Seiten, 21 Euro.

Das Interview erschien zuerst im Magazin "Sur - KulturPolitik in Stuttgart und Region".


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5 Kommentare verfügbar

  • Jue.So Jürgen Sojka
    am 10.05.2017
    Antworten
    Zuerst war das Wort – jetzt würde diese Aussage so stehen bleiben können, wenn nicht…

    Wenn nicht die Sprache, die erlernt wird, von jenen gedeutet wird, und das auch noch hoheitlich, die über ein äußerst geringes Sprachverständnis verfügen! [b](⁴)[/b]

    Wenn nicht die Sprache, die erlernt wird,…
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