Experten wie Joachim Perels von der Universität Hannover werfen der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg bei Stuttgart vor, die Ermittlungen gegen viele mutmaßliche Mörder und ihre Helfer oft jahrzehntelang blockiert zu haben. Kurt Schrimm begründet die Untätigkeit der von ihm geleiteten Behörde bei den Helfern mit einem (nicht rechtskräftigen) Urteil aus dem Jahr 2011. Seitdem sei man in Ludwigsburg der Meinung, es genüge die nachweisliche Anwesenheit eines SS-Mitglieds in einem Vernichtungslager, um den Straftatbestand der Beihilfe zum Mord zu erfüllen. Deshalb ermittelten die Ludwigsburger erst seit Kurzem gegen mehrere Dutzend niedere Dienstgrade, die in Auschwitz eingesetzt waren oder in anderen Lagern, die zeitweise der fabrikmäßigen Tötung von Menschen dienten.
Einen der mutmaßlichen Mord-Helfer, Hans Lipschis (93), ließ die Staatsanwaltschaft Stuttgart Anfang Mai verhaften und ins Gefängniskrankenhaus Hohenasperg bringen. Vorwurf: Beihilfe zum Mord in fast 10.000 Fällen. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart vermutet, dass Lipschis in Auschwitz und Birkenau nicht nur in der Küche tätig war, wie er behauptet, sondern auch als Wachmann und an der Rampe, wo die Häftlinge aus den Eisenbahnwaggons getrieben und selektiert wurden. Wer zur Zwangsarbeit nicht taugte, musste sofort in die Gaskammer. Konkrete Tathinweise fehlen aber.
Nachdem die Zentrale Stelle ihre Vorermittlungen – nur dafür ist sie zuständig – abgeschlossen hatte, gab sie den Fall Lipschis an die von Bernhard Häußler geleitete Staatsschutzabteilung der Stuttgarter Staatsanwaltschaft ab. Sie ist zuständig, weil der 93-Jährige Lipschis seit 30 Jahren in Aalen in Ostwürttemberg lebt. Die Stuttgarter haben dann nicht lange gefackelt und einen Haftbefehl erwirkt. Was in diesem Fall in wenigen Monaten möglich war, dauerte beim Verfahren gegen die Männer, die 1944 am SS-Massaker im italienischen Sant' Anna di Stazzema mutmaßlich beteiligt waren, zehn Jahre. Obwohl es dabei im Gegensatz zum Fall Lipschis konkrete Tatvorwürfe und entsprechende Beweise gibt und obwohl zehn ehemalige SS-Männer in Italien seit 2008 rechtskräftig verurteilt sind, <link http: www.kontextwochenzeitung.de ueberm-kesselrand streit-um-massaker-geht-weiter-459.html _blank>ließ Oberstaatsanwalt Häußler das deutsche Verfahren im Herbst 2012 einstellen, was inzwischen auch die Generalstaatsanwaltschaft bestätigt hat.
Das Demjanjuk-Urteil wird als Ausrede benutzt
Zurück zum Demjanjuk-Urteil, auf das sich die Ludwigsburger Nazi-Fahnder berufen: 2011 hatte das Landgericht München II John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Juden im Vernichtungslager Sobibor zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl konkrete Taten nicht belegt werden konnten. Das Urteil wurde bis zu dessen Tod 2012 nicht rechtskräftig, da Verteidigung und Staatsanwaltschaft Revision eingelegt hatten.
Aber warum kam das Demjanjuk-Verfahren überhaupt in Gang, wenn der Mann nach der angeblich Jahrzehnte lang herrschenden Rechtsauffassung hätte gar nicht angeklagt werden können? Zudem war der gebürtige Ukrainer das kleinste Rädchen in der Mordmaschinerie. Er war als Rotarmist auf der Krim in Kriegsgefangenschaft geraten und wurde später, weil es der SS an Personal fehlte, als Wachmann im Vernichtungslager Sobibor eingesetzt, das an der heutigen Ostgrenze Polens liegt.
Von 1986 bis 1993 saß Demjanjuk dann in Israel im Gefängnis, weil man ihn für "Iwan, den Schrecklichen" hielt, der im SS-Vernichtungslager Treblinka nordöstlich von Warschau wütete. 1988 war Demjanjuk deshalb nach einem spektakulären und weltweit beachteten Prozess zum Tode verurteilt worden. Zu Unrecht, wie der Oberste Gerichtshof fünf Jahre später einstimmig feststellte. Eine riesige Blamage für die Regierung. Obwohl die israelischen Nazi-Jäger Demjanjuk zuletzt als einen Wachmann im Vernichtungslager Sobibor identifiziert haben wollten, musste das Land den Mann nach dem Freispruch in die USA zurückreisen lassen. Grund: Er wurde ausschließlich wegen möglicher Verbrechen in Treblinka ausgeliefert, nicht wegen möglicher anderer Straftaten.
Die USA haben der gebürtigen Ukrainer schließlich nach Deutschland abgeschoben. Nur dieser speziellen Geschichte ist es zu verdanken, dass die deutsche Justiz gegen "den kleinsten der kleinen Fische", so Christian Rüter, vorgegangen ist. Um Demjanjuk hätte sich sonst niemand gekümmert, sagt der Leiter des Amsterdamer Forschungsprojektes "Justiz und NS-Verbrechen".
1 Kommentar verfügbar
Abdullah S.
am 30.04.2015Die ganzen schrecklichen Bilder, die im Internet für Jedermann sichtbar sind, sind…