In seinen besten Jahren war der "Spiegel" laut Eigenwerbung ein Sturmgeschütz der Demokratie. Man kann vortrefflich darüber streiten, ob das Magazin je diesem Mythos entsprach, den er seitdem wie eine Monstranz vor sich herträgt. Der heutige "Spiegel" ist - so viel steht fest - von diesem Ideal Lichtjahre entfernt. Mit einer Melange aus zackiger Deutschtümelei, denkfaulem Papageienjournalismus, eitler Geckenhaftigkeit und gnadenlosen Opportunismus hechelt das Blatt einem Zeitgeist hinterher, der stilgebend für die Merkel-Ära ist. Aus dem Sturmgeschütz der Demokratie wurde ein Steigbügelhalter der Marktkonformität.
"Im Zweifelsfall links", so lautete einst die Devise des Herausgebers Rudolf Augstein. War der "Spiegel" in seinen besten Zeiten ein nach allen Seiten kritisches linksliberales Blatt, entwickelte er sich im letzten Jahrzehnt zusehends zu einem neoliberalen Kampfblatt. Als Talkshow-Ökonomen und Lobbyisten der Großkonzerne zur neoliberalen Wende trommelten, heulte die Zeitschrift mit den Wölfen, polemisierte "wie der Sozialstaat zur Selbstbedienung einlädt" und philosophierte über die "Melkkuh Sozialstaat".
Die Blaupause für die Agenda 2010 kommt aus Hamburg
In unzähligen Titelstorys mit schlagkräftigen Überschriften wie "Die blockierte Republik" , "Radikalkur gegen Arbeitslosigkeit" , "Wie (un)sozial darf/muss die SPD sein" , "REFORMEN" , "Die Stunde der Wahrheit im Land der Lügen" oder "Die veruntreute Zukunft" , trommelte der "Spiegel" fortan für neoliberale Reformen und gab damit die Blaupause für die Agenda 2010 vor. Und als der Reformeifer der rot-grünen Regierung in der demoskopischen Agonie langsam erlosch, schwenkte das Blatt um, läutete in einem Leitartikel den "langen Abschied von Rot-Grün" ein, schrieb Angela Merkel ins Amt und blieb auch ansonsten seiner neoliberalen Linie treu. Und als Merkels Reformeifer dann ebenfalls erlahmte, titelte der "Spiegel" "Aufhören!" und machte aus der Kanzlerin "Angela Mutlos".
Der "Spiegel" berichtet nicht nur über Politik, er macht Politik. Vor allem im sozialdemokratischen und linksliberalen Lager galt das Magazin lange Zeit noch als kritische Instanz. Als Gerhard Schröder einst bierselig schwadronierte, er brauche zum Regieren nur "BILD, BamS und Glotze", stapelte er zu tief. Ohne den "Spiegel" hätte er seine Agenda wohl nie gegen den einstigen Willen der Parteibasis durchregieren können. Dass das einstige Sturmgeschütz zu einem Durchlauferhitzer für die von den Arbeitgeberverbänden finanzierte neoliberale PR wurde, ist unbestritten. Doch wie konnte aus einem ehemals wirtschaftspolitisch kritischen Blatt ein Organ des denkfaulen Papageienjournalismus werden?
31 Kommentare verfügbar
Armin
am 22.09.2014Sie sprechen mir aus dem Herzen.
Nachdem X Kommentare von mir beim Spiegel in den letzten Tagen zensuriert wurden, die Qualität der Berichte inzwischen auf oder gar unter Bild Niveau liegt und ich mich selbst als *freier* Journalist für die SPIEGEL "Qualität" nur noch fremdschäme, habe…