Sie schreiben, der geplante Bahnhof sei ein Wahrzeichen im "globalen Wettbewerb der Metropolen". Schwierig, so unter der Erde, und für eine Stadt wie Stuttgart größenwahnsinnig?
Was das Wahrzeichen angeht: Ich finde es cool, dass es unter der Erde ist, mit der vorsichtigen Äußerung nach oben durch die in den Rasen eingelassenen Öffnungen. Das hat eine Coolness, nichts Protziges, Lautes. S 21 sagt: Ich liege unter der Erde, aber ihr wisst, dass ich da bin. Ich kann mir vorstellen, dass das ein Wahrzeichen wird. Der Begriff Metropole fällt uns zu Stuttgart nicht gleich ein, aber: In Stuttgart sitzen ein Weltkonzern und viele Großunternehmen, Baden-Württemberg ist für Deutschland, Europa, wirtschaftlich von großer Bedeutung. Natürlich konkurriert Stuttgart mit anderen Städten. Daimler konkurriert um die besten Ingenieure der Welt. Ingenieure, Manager und deren Familien wollen in guten Städten leben. Deshalb muss Stuttgart etwas tun.
Sie sagen, die Gegner von S 21 denken nur an sich. Hat sich das Bürgertum irgendwann mal nicht für seine Interessen, sondern für die aller eingesetzt?
Würde ich sagen, ja. Im Vormärz hat das Bürgertum zum Teil von sich und von seinen Interessen abgesehen, hat das eigenen Leben riskiert, die eigene Zukunft, für sich, aber auch für andere. Nein, haben viele Bürger gesagt, wir gehen auf die Straße, bauen Barrikaden, setzen uns für bürgerliche Demokratie, einen Nationalstaat ein. Insofern glaube ich, dass es in der Geschichte des deutschen Bürgertums eine Form von Selbstlosigkeit gibt, die immer mal wieder hervortritt.
Ihr Beispiel stammt aus der vorindustriellen Gesellschaft, in der das politische Interesse des Bürgertums für einen Moment mit dem Aller übereinstimmte. In Industriegesellschaften muss sich jede Klasse für ihre Interessen einsetzen, weil sie konträr sind. Deshalb ist die Kritik an den Demonstranten, unter Verweis aufs angeblich große Ganze, falsch.
Ich widerspreche. Ich finde, dass die moderne Demokratie Sie widerlegt. Die Demokratie ist eine bürgerliche Demokratie und wird vor allem von Bürgern getragen. Immer noch. Durch Engagement, durch Teilnahme an den Wahlen, auch indem sie das Personal der Demokratie stellen. Wenn die Bürger die Demokratie tragen, dann tun sie das nicht nur für sich, dann haben alle etwas davon. Wir haben keine idealen sozialen Verhältnisse, und es sind Bürger, die auf die schauen, die sich nicht artikulieren können oder im Elend leben. Das Bürgertum schaut nicht nur auf sich und die eigenen Interessen.
Warum bestreiten Sie den S 21-Demonstranten die Motive, die Sie dem Bürgertum als Ganzem unterstellen?
Das sind ja nicht die Bürger, die da demonstrieren, sondern es ist ein Teil des Stuttgarter Bürgertums. Insofern können wir nicht von dem Bürger sprechen, da steht Bürger gegen Bürger. Eine bürgerliche Gruppe wendet sich gegen eine andere. Durch Biographie, durch Zufälle ...
Überlegung ...
... genau, Überlegung, kamen sie zu unterschiedlichen Schlüssen. Ich stehe auf der Seite der Befürworter, denn wenn ich in Stuttgart bin, sehe ich eine geteilte Stadt. Der Bahndamm teilt die Stadt, es ist schwer, von der einen Hälfte in die andere zu kommen, das ist städtebaulich ein Unding, der Versuch, dieses Hindernis zu beseitigen, richtig.
Sie unterstellen den Gegnern Hass, Wut, Fanatismus und fordern Contenance. Die braucht man angesichts des Unabänderlichen. Unabänderliches gibt's in Demokratien nicht.
Ich verstehe die Emotion, am Anfang ist Emotion: Wut, Freude, Leidenschaft. Eine Errungenschaft der Demokratie ist, das zu beherrschen, zu zivilisieren, zu sagen: Nein, ich folge nicht dem ersten Impuls, sondern beruhige mich und trete in einen Diskurs mit denen, die anderer Meinung sind. Eine Demokratie, in der alles umstritten ist, umstritten sein muss, braucht zivile Umgangsformen. Wenn wir jeden Streit ohne Beherrschung austragen, haben wir Bürgerkrieg und Chaos. Demokratie braucht Zivilität.
Contenance ist nicht Kontrolle der Emotionen, sondern Fügen ins Unabänderliche. Dass Sie den S 21-Gegnern die Buddenbrooks vorhalten, die im Obrigkeitsstaat leben, ist doch deutlich. Die Demonstranten sollen sich fügen, das fordern Sie. Mit Contenance kein Frauenwahlrecht, kein Acht-Stundentag. In Stuttgart agierten Politik und Polizei ohne Zivilität.
Wir haben verschiedene Auffassungen vom Begriff Contenance. Es kann in der Demokratie nicht das Fügen ins angeblich Unabänderliche geben. Demokratie heißt: Alles ist jederzeit zu verändern, weil es ein dynamisches System ist. Wenn Sie Recht haben, was den Begriff angeht, ist er falsch.
12 Kommentare verfügbar
Hartmut Hendrich
am 18.06.2013