KONTEXT:Wochenzeitung
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"Es war ein geradezu idealer politischer Prozess"

"Es war ein geradezu idealer politischer Prozess"
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Spiegel-Autor Dirk Kurbjuweit verteidigt seine Aussage vom "Wutbürger". "Ich halte nichts von emotionalisierten Protesten", sagt Kurbjuweit und attestiert dem geplanten Tiefbahnhof "Coolness".

Wie kamen Sie auf "Wutbürger"?

Ich hatte den Essay geschrieben und suchte nach einer Überschrift. Ich spielte herum, dann fiel mir das Wort ein. Ich schrieb es drüber und fand, dass es gut passt. Dann schrieb ich es auch in den Text.

Sie behaupten, die S 21-Gegner seien "zukunftsvergessen". Sie glauben, die Zukunft zu kennen, dabei ist die offen und es geht drum, wer sie macht.

Ich kenne die Zukunft nicht. In unsere Debatten fließen nur Vorstellungen von der Zukunft ein. Leider können nicht die beteiligt sein, die in der Zukunft leben werden. Es gibt nicht die Debatte mit denen, die in 50 Jahren leben und womöglich froh sind über den neuen Bahnhof. Daher sind Debatten über die Zukunft immer schiefe Debatten, weil die, die von Investitionen profitieren, vielleicht auch in späteren Jahren darunter leiden, nicht beteiligt sind. Wir leben in der Gegenwart und die Gegenwart, gerade bei Bauprojekten, ist manchmal lästig, schwer erträglich oder bedrohlich. Davon haben wir eine klare Vorstellung, nicht klar ist die Vorstellung der Zukunft: Was ist Stuttgart für eine Stadt mit diesem Bahnhof? Da gibt es nur Prognosen.

Die können falsch sein.

Können falsch sein. Prognosen haben ein Irrtumsrisiko.

Auch weil sie interessengeleitet sind. Man kann nicht behaupten, dass die Befürworter von S 21 nur an die Zukunft der Stadt denken.

Das würde ich nicht behaupten. Bei der Bahn und in der Politik sind nicht nur Altruisten am Werk, aber auch nicht bei den Bürgerinitiativen. Es gibt bei manchen die Neigung, denen, die protestieren, höhere Kompetenz oder das bessere Menschsein zuzusprechen, während - zugespitzt - Bahn und Politiker als die Bösen gelten. Als Journalist bin ich allen gegenüber skeptisch: Politikern, Unternehmen, aber auch dem Bürger. Ich habe kein ideales Bild vom Bürger, zumal ich selbst einer bin und von meinen Irrtümern weiß. Also hat Einer, nur weil er in Stuttgart lebt und kein Amt hat, nicht per se Recht. Nein. Da stoßen konträre Meinungen mit dem gleichen Anspruch auf Im-Recht-sein aufeinander. Am Ende entscheiden Mehrheiten.

Der Stuttgarter ohne Amt ist legitimiert für seine Meinung zu kämpfen.

Der kann sich auch irren, wie alle, die an diesem Prozess beteiligt sind. Auch ich. Was die Legitimität anbelangt: auf jeden Fall. Das bestreite ich nicht.

Wer soll mitreden, wenn es um Zukunft geht?

Alle sollen mitreden, das halte ich in einer Demokratie für unerlässlich. Am Ende müssen Abstimmungen entscheiden. Demokratie kann nicht in einer Kakophonie der Stimmen enden. Irgendwann müssen sich die Stimmen bündeln, das ging bislang vor allem über Parteien. Medien bündeln Stimmen, Anführer von Protestgruppen, Bürgerinitiativen. Alles Versuche, Meinung zu bündeln. Der Diskurs beginnt breit, alle reden mit, dann läuft er spitz zu wie in einer Pyramide, dazu braucht man Bündelungsverfahren und am Ende Entscheidungen. Ich bin ein Freund der repräsentativen Demokratie und finde, am Ende sollen Parlamente und Regierungen entscheiden.

Was ist dann der Grund, die Demonstranten "Wutbürger" zu nennen?

In diesem Essay ging es um zivile Umgangsformen. Ich halte nichts von emotionalisierten Protesten. Natürlich ist der Protest legitim, aber es ist auch legitim, auf den Protest in einem Essay zu reagieren. Das ist Teil des Diskurses, mit diesen Leuten, mit der Politik.

Sie schreiben, der geplante Bahnhof sei ein Wahrzeichen im "globalen Wettbewerb der Metropolen". Schwierig, so unter der Erde, und für eine Stadt wie Stuttgart größenwahnsinnig?

Was das Wahrzeichen angeht: Ich finde es cool, dass es unter der Erde ist, mit der vorsichtigen Äußerung nach oben durch die in den Rasen eingelassenen Öffnungen. Das hat eine Coolness, nichts Protziges, Lautes. S 21 sagt: Ich liege unter der Erde, aber ihr wisst, dass ich da bin. Ich kann mir vorstellen, dass das ein Wahrzeichen wird. Der Begriff Metropole fällt uns zu Stuttgart nicht gleich ein, aber: In Stuttgart sitzen ein Weltkonzern und viele Großunternehmen, Baden-Württemberg ist für Deutschland, Europa, wirtschaftlich von großer Bedeutung. Natürlich konkurriert Stuttgart mit anderen Städten. Daimler konkurriert um die besten Ingenieure der Welt. Ingenieure, Manager und deren Familien wollen in guten Städten leben. Deshalb muss Stuttgart etwas tun.

Sie sagen, die Gegner von S 21 denken nur an sich. Hat sich das Bürgertum irgendwann mal nicht für seine Interessen, sondern für die aller eingesetzt?

Würde ich sagen, ja. Im Vormärz hat das Bürgertum zum Teil von sich und von seinen Interessen abgesehen, hat das eigenen Leben riskiert, die eigene Zukunft, für sich, aber auch für andere. Nein, haben viele Bürger gesagt, wir gehen auf die Straße, bauen Barrikaden, setzen uns für bürgerliche Demokratie, einen Nationalstaat ein. Insofern glaube ich, dass es in der Geschichte des deutschen Bürgertums eine Form von Selbstlosigkeit gibt, die immer mal wieder hervortritt.

Ihr Beispiel stammt aus der vorindustriellen Gesellschaft, in der das politische Interesse des Bürgertums für einen Moment mit dem Aller übereinstimmte. In Industriegesellschaften muss sich jede Klasse für ihre Interessen einsetzen, weil sie konträr sind. Deshalb ist die Kritik an den Demonstranten, unter Verweis aufs angeblich große Ganze, falsch.

Ich widerspreche. Ich finde, dass die moderne Demokratie Sie widerlegt. Die Demokratie ist eine bürgerliche Demokratie und wird vor allem von Bürgern getragen. Immer noch. Durch Engagement, durch Teilnahme an den Wahlen, auch indem sie das Personal der Demokratie stellen. Wenn die Bürger die Demokratie tragen, dann tun sie das nicht nur für sich, dann haben alle etwas davon. Wir haben keine idealen sozialen Verhältnisse, und es sind Bürger, die auf die schauen, die sich nicht artikulieren können oder im Elend leben. Das Bürgertum schaut nicht nur auf sich und die eigenen Interessen.

Warum bestreiten Sie den S 21-Demonstranten die Motive, die Sie dem Bürgertum als Ganzem unterstellen?

Das sind ja nicht die Bürger, die da demonstrieren, sondern es ist ein Teil des Stuttgarter Bürgertums. Insofern können wir nicht von dem Bürger sprechen, da steht Bürger gegen Bürger. Eine bürgerliche Gruppe wendet sich gegen eine andere. Durch Biographie, durch Zufälle ...

Überlegung ...

... genau, Überlegung, kamen sie zu unterschiedlichen Schlüssen. Ich stehe auf der Seite der Befürworter, denn wenn ich in Stuttgart bin, sehe ich eine geteilte Stadt. Der Bahndamm teilt die Stadt, es ist schwer, von der einen Hälfte in die andere zu kommen, das ist städtebaulich ein Unding, der Versuch, dieses Hindernis zu beseitigen, richtig.

Sie unterstellen den Gegnern Hass, Wut, Fanatismus und fordern Contenance. Die braucht man angesichts des Unabänderlichen. Unabänderliches gibt's in Demokratien nicht.

Ich verstehe die Emotion, am Anfang ist Emotion: Wut, Freude, Leidenschaft. Eine Errungenschaft der Demokratie ist, das zu beherrschen, zu zivilisieren, zu sagen: Nein, ich folge nicht dem ersten Impuls, sondern beruhige mich und trete in einen Diskurs mit denen, die anderer Meinung sind. Eine Demokratie, in der alles umstritten ist, umstritten sein muss, braucht zivile Umgangsformen. Wenn wir jeden Streit ohne Beherrschung austragen, haben wir Bürgerkrieg und Chaos. Demokratie braucht Zivilität.

Contenance ist nicht Kontrolle der Emotionen, sondern Fügen ins Unabänderliche. Dass Sie den S 21-Gegnern die Buddenbrooks vorhalten, die im Obrigkeitsstaat leben, ist doch deutlich. Die Demonstranten sollen sich fügen, das fordern Sie. Mit Contenance kein Frauenwahlrecht, kein Acht-Stundentag. In Stuttgart agierten Politik und Polizei ohne Zivilität.

Wir haben verschiedene Auffassungen vom Begriff Contenance. Es kann in der Demokratie nicht das Fügen ins angeblich Unabänderliche geben. Demokratie heißt: Alles ist jederzeit zu verändern, weil es ein dynamisches System ist. Wenn Sie Recht haben, was den Begriff angeht, ist er falsch.

Wut ist nicht, wie Sie sagen, Ausgangspunkt, sondern Reaktion auf intransingente Gegner: Bahn, Stadt, Land, Polizei, Medien. Den S 21-Gegnern wurde vermittelt, auch medial: Ob Ihr Recht habt oder nicht, Ihr richtet nichts aus. Da ist Wut eine adäquate Reaktion.

Da muss ich Ihnen widersprechen. Wenigstens zum Teil. Ich hab die Zeitungsartikel der neunziger Jahren angeguckt: Wie viele Leute waren bei den Anhörungen, was konnte man wann wissen? In meinen Augen war das Verfahren korrekt. Die Entscheidungen fielen transparent und korrekt, insoweit verstehe ich die Wut nicht. Bahn und Politik hätten allerdings geschmeidiger reagieren können, als sie gemerkt haben, dass der Bahnhof von einem Großteil der Bevölkerung nicht akzeptiert wird. Da hätte man nicht sagen sollen: Das Verfahren war transparent, das ziehen wir durch. Da haben Bahn und Politik Fehler gemacht. Man hätte Verbesserungen zulassen können.

Sie haben die These, die Bürger hätten der Politik die Gefolgschaft aufgekündigt. Bei der Landtags- und der OB-Wahl wurde der CDU gekündigt, nicht der Politik.

Das sah tatsächlich zunächst so aus. Aber dann kam die Mediation, die manche Bürger mit der Politik versöhnt hat. Ich finde, es war, nach vielen Schwierigkeiten, ein geradezu idealer politischer Prozess. Es gab eine Mediation, es gab eine Volksabstimmung, bei der die Gegner des Bahnhofs verloren haben. Es gab Wahlen in Land und Stadt, bei denen die Gegner des Bahnhofs gewonnen haben. In einer Demokratie muss man immer Sieger und Verlierer sein können.

Die Medien kommen im Artikel nicht vor: SWR und Stuttgarter Tageszeitungen waren für S 21, die Meinung der Gegner blieb unterrepräsentiert. Auch ein Aspekt von Wut.

Ich weiß nicht genau, wie das mit den Medien in Baden-Württemberg war. In der bundesdeutschen Öffentlichkeit war es nicht eindeutig. Die "Süddeutsche Zeitung" war für die Demonstranten, der "Spiegel" war gespalten. Generell haben Sie Recht. Ich glaube auch, dass es gefährlich ist für die Demokratie, wenn Bürger den Eindruck haben, sie stehen allein vor einem politisch-industriell-medialen Komplex. Manchmal machen Politiker etwas richtig, aber wenn ich positiv über Politiker schreibe, bekomme ich Leserbriefe, die sagen: Ihr macht jetzt auch mit. Generell darf nicht der Eindruck entstehen, dass wir mit den Mächtigen paktieren. In der frühen Phasen, das stimmt, waren die Zeitungen in Stuttgart dafür.

Danke Herr Kurbjuweit.

Gerne.

 

Dirk Kurbjuweit, 50, ist seit 1999 Journalist beim "Spiegel", Autor von Sachbüchern und von mehreren verfilmten Romanen (Schussangst, Die Einsamkeit der Krokodile). 


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12 Kommentare verfügbar

  • Hartmut Hendrich
    am 18.06.2013
    Antworten
    Hier hat man wieder ein Beispiel, wie der angebliche Qualitätsjournalismus funktioniert. Liest man in Zeitungen oder Zeitschriften über ein Thema, an dem man nicht nur ein allgemeines Interesse hat, sondern selbst etwas mehr weiß, dann merkt man sehr schnell, daß solche clever, coolen Journalisten,…
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