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Literaturfestival Stuttgart

Über Leben und Überleben

Literaturfestival Stuttgart: Über Leben und Überleben
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 Fotos: Julian Rettig 

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Der Festredner des zweiten Stuttgarter Literaturfestivals "Über Leben" erzählt von der ukrainischen Front. Kriegs- und Krisensituationen sind Thema. Doch es gibt auch ganz andere Töne.

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"Zwei Jahre ist es her, da konnte ich die eigene Unschlüssigkeit nicht länger ertragen", beginnt der polnische Autor Sczcepan Twardoch seine Eröffnungsrede zum zweiten Stuttgarter Literaturfestival, "und fuhr an die Front." Mit Geländewagen, die er über ein Fundraising finanziert hatte. Seine Rede im Literaturhaus wirkt wie eine Fortsetzung seines neuesten Romans "Die Nulllinie": Ein Bericht von seinem letzten Frontausflug im Januar.

Die Fahrt sei gefährlicher als der Schützengraben, konstatiert Twardoch und erzählt von FPV- (First Person View), Mavic- und Antal-Drohnen, den größeren Hexacoptern namens Fury, Shark und Flyeye, die es dort vor zwei Jahren allesamt noch nicht gab. Ein Wald von Antennen auf dem Dach des Jeep – das radioelektronische Abwehrsystem REB – sendet Störsignale. "REB ist unser Leben", sagt sein Fahrer, der 60-jährige Oleg. Wenn auf dem Monitor das Bild des eigenen Fahrzeugs erscheine, helfe nur noch, sofort herauszuspringen.

Kriegsberichterstattung oder Literatur? "(Über)leben" lautet das Motto, unter das die Kuratorin und georgische Autorin Nino Haratischwili das zweite Stuttgarter Literaturfestival gestellt hat. Einen geeigneteren Eröffnungsredner als Twardoch, der 2022 mit einem "wunderbaren Artikel", so Haratischwili, in der "Neuen Zürcher Zeitung" westlichen Putin-Verstehern den Kopf gewaschen hatte, habe sie nicht finden können.

Twardoch ist in Polen ein Bestsellerautor. Als Model einer Mercedes-Werbekampagne war er vorher schon landesweit bekannt. Er stammt aus einer oberschlesischen Bergarbeiterfamilie und beschäftigt sich in seinen Romanen mit der wechselvollen Geschichte des Landes und seiner Region. Zu den Ingredienzen gehören Spannung, große Liebe, aber auch sorgfältig recherchierte Fakten, ungewohnte Perspektiven und ein feines Gespür für die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Geschichte.

In "Das schwarze Königreich" macht er einen Boxer und Mafioso zum Protagonisten des Überlebens im Warschauer Ghetto. In "Drach" – darin steckt das Wort Drache – geht es um die Geschichte Oberschlesiens aus der Sicht der Erde: Denn nur sie hat Bestand, über alle Umbrüche hinweg. In "Demut" erlebt ein oberschlesischer Bergmannssohn, zurück aus den Schützengräben Flanderns, im Lazarett in Berlin die Novemberrevolution. Der Roman war gerade erschienen, als der Ukrainekrieg eskalierte. Twardochs Entschluss, an die Front zu fahren, kam wohl auch dadurch zustande, dass er wissen wollte, ob seine aus Archivmaterialien rekonstruierte Schilderung des Krieges der Realität standhalten würde. Allerdings hatte er da noch gar nicht vor, einen Roman zu schreiben. "Die Nulllinie" kam auf Anfrage seines Lektors im Rowohlt-Verlag zustande, der eine Kriegsreportage von ihm wollte, erzählt er beim Festival im Studio Amore seinem Übersetzer Olaf Kühl.

Mit dem Format der Reportage kam Twardoch indes nicht zurecht. Doch als er zurück von der Front "ziemlich kaputt" in einem guten Hotel essen gegangen sei, habe er einfach angefangen zu schreiben. Die fiktive Form des Romans hilft ihm, seine Informanten zu schützen, aber auch zu schreiben, was in ihren Köpfen vorgeht. Twardoch hat keinen Anti-Kriegs-Roman geschrieben. Er verherrlicht aber auch nicht den Krieg. Als "Fleischeinlage" bezeichneten die Ukrainer die Soldaten im Schützengraben, berichtet er. "Die Wahrscheinlichkeit zu fallen, ist sehr hoch."

Twardoch sieht große Probleme, wenn Soldaten nach Jahren an der Front ins zivile Leben zurückkehren. Wie nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland? fragt Olaf Kühl. Mit dem Unterschied, dass die Ukraine den Krieg nicht verlieren wird, antwortet der Schriftsteller. Das sei doch ein gutes Schlusswort, meint der Übersetzer und lässt offen, ob er Twardoch in dieser Einschätzung zustimmt.

Der Stoff, aus dem Geschichten sind

Wie überleben die Toten? In der Erinnerung. Katja Simon von der Bürgerstiftung lädt jeden Donnerstag auf dem Pragfriedhof zu Kaffee und Kuchen. Menschen, die vom Grab ihres Partners kommen, müssen nicht gleich zurück in ihre leere Wohnung, sie können sich austauschen. Gegenüber hat zum Literaturfestival open air die Schreibbude Platz genommen: Drei Autor:innen tippen im Zweifingersystem kurze Texte oder Gedichte in alte Schreibmaschinen. Ein paar Stichworte genügen, eine Zeichnerin illustriert, und die Hinterbliebenen können etwas mit nach Haus nehmen.

Am Bismarckplatz im Stuttgarter Westen hat der Verein Ars Narrandi einen großen Webrahmen aufgebaut. Passanten sollen Stoffe vorbeibringen, die sich mit Geschichten verbinden: von Flucht und Überleben, von Angehörigen. Erzählstoff holen professionelle Erzähler:innen aus diesen Textilien heraus. Den Faden liefert die Vorstellung des Webens. Das funktioniert schon beim Aufbau ganz gut: Eine Iranerin kommt vorbei, erzählt, wie man webt, was sie alles studiert hat und im Iran als Frau damit nichts anfangen konnte. Odile Néri-Kaiser, die Ars Narrandi 2010 gegründet hat, stammt aus Lyon. Sie will Menschen fürs mündliche Erzählen begeistern. Anwesend sind an diesem sonnigen Nachmittag vor allem Kinder mit ihren Eltern. Was nicht unbedingt so geplant war, aber auch nichts ausmacht.

Chantal-Fleur Sandjon.

Lesestoff für Kinder und Jugendliche

Noch vor der offiziellen Eröffnung begann das Literaturfestival bereits am Morgen in der Stadtteilbibliothek Feuerbach: mit einer Lesung der Afrodeutschen Efua Traoré über das Aufwachsen im ländlichen Nigeria. Das von der Stadtbibliothek organisierte Programm, vorwiegend für Schulklassen und Gruppen, verteilt sich auch auf die Stadtteile und hat eine eigene Kuratorin: Chantal-Fleur Sandjon, „waschechte Berlinerin“, wie sie sagt, preisgekrönte Jugendbuchautorin und ebenfalls Afrodeutsche. Sie will Diversität eine Stimme geben: „Schließlich wird in den Familien vieler Kinder und Jugendlicher noch eine andere Sprache gesprochen als Deutsch.“ So war es bei einigen der eingeladenen Autor:innen und nun stellt sich mit dem Buchtitel der aus Kasachstan stammenden Ina Peter, die heute im Haus des Heimat über Russlanddeutsche spricht, die Frage: „Deutsch genug?“ Weitere Höhepunkte sind am Freitag ein Gespräch mit dem Behindertenaktivisten Raúl Krauthausen und ein „Romance Talk“ zwischen einer queeren Autorin und einer Muslima.  (dh)

Der Westafrikaner Parfait Haldo Dieudonné Dossa erzählt auf Französisch die Geschichte einer Frau, die aus einem wunderschönen Stoff immer wieder etwas Neues macht. Eine Freundin übersetzt – was fast nicht nötig wäre: Er gestikuliert, animiert seine Zuhörer:innen zum Mitmachen und wiederholt ständig dieselben Phrasen, sodass die Kinder am Ende auch noch ein wenig Französisch gelernt haben.

Was Erzählen bewirken kann, zeigt Néri-Kaiser mit einer eigenen Geschichte: In dem Haus, in dem sie aufgewachsen ist, leben ihr 80-jähriger Großvater – Teilnehmer des Ersten Weltkriegs – und eine Großtante "so breit wie hoch", die gern webt, Kinder auf den Schoß nimmt und ihnen Geschichten erzählt. Lügengeschichten. Der Großvater ermahnt sie, sie solle die Wahrheit sagen. Da baut sie sich vor ihm auf und schimpft: "Glaubst du vielleicht, dass du mit deinen Geschichten von Gräben und Gräbern die Leute glücklich machst?" Da erfindet der Großvater selbst eine Geschichte von einer Stimme aus einem Grab, die mit deutschem Akzent französische Lieder singt. Die Geschichte sei wahr, erklärt Néri-Kaiser. Ihr Großvater habe auf diese Weise sein Kriegstrauma überwunden.

Wenn der Sprache Flügel wachsen

"Es tut uns leid, dass unsere Toten im Internet so viel Lärm verursachen", liest Abdalrahman Alqalaq im Club Sunny High aus einem Gedicht, das er zunächst auf Arabisch vorgetragen hat. "Es war uns nicht vergönnt, eine Sprache zu erlernen, in der man eleganter sterben kann." Es geht um den Gazastreifen. Sein erstes Gedicht hat mit Zahlen begonnen. Opferzahlen. Es gibt aber nur einen Tod. "Nun schraffiere ich für Dich einen einzigen Tod hinter Ziffern, die zu Erinnerungen werden, bis sie auf Widerhall stoßen und nicht mehr Erinnerung sind."

Alqalaq stammt aus Syrien. In Yarmouk, einem Flüchtlingslager für die 1948 vertriebenen Palästinenser am Rand von Damaskus, ist er aufgewachsen und mit 15 Jahren vor den Repressionen des Assad-Regimes nach Deutschland geflohen. Er hat in Hildesheim Kulturwissenschaften, Literatur und Theater studiert und vor drei Jahren in Kairo seinen ersten Gedichtband veröffentlicht. Nun liest aus seinem zweiten: "Übergangsritus".

"Abdalrahman Alqalaqs Sprache sind Flügel gewachsen", schreibt Annika Reich auf dem Bucheinband. "Er erzählt selbst von den dunkelsten Seiten des Lebens so, dass man ihm überallhin folgen möchte und als anderer Mensch wieder auftaucht." Reich hat 2017 das Projekt "Weiter schreiben" für Autor:innen aus Kriegs- und Krisengebieten ins Leben gerufen. Dazu gehört auch der Austausch und so kam Lina Atfah, ebenfalls aus Syrien, mit Nino Haratischwili zusammen.

"Lina Atfah findet Worte für die, die sie verloren haben", schreibt Haratischwili auf dem Cover des 2019 erschienenen Erstlingswerks "Das Buch von der fehlenden Ankunft". "Sie sucht nach einer Sprache inmitten der Sprachlosigkeit." In der Nacht der arabischen Poesie im Sunny High liest Atfah ein Gedicht, das von ihrer ersten Begegnung mit der deutschen Sprache erzählt. Es heißt "Das Navi" und beginnt mit den Worten: "Nach zweihundert Metern biegen Sie rechts ab." Atfah lebt in Wanne-Eickel und hat inzwischen die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Sie dichtet auf Arabisch, doch ihr Publikum ist deutsch. "Die ganze Welt ist jetzt meine Heimat", erklärt sie.

Jamal al-Jabouri stammt aus dem Irak – und aus einer anderen Generation. Sie ist Saddam Hussein begegnet und vor ihm geflohen. Im Exil hat sie schlechte Erfahrungen mit Schriftstellerkollegen gemacht und ist 2003, nach dem Sturz Saddams, in den Irak zurückgekehrt. Eindrucksvoll ist, wie sie liest, Klang und Sinn der Worte nachhorcht. Flucht, Exil, Verrat und Disapora sind auch Themen ihrer Gedichte, die Stefan Weidner anschließend auf Deutsch vorträgt.

Weidner hat vor Kurzem "Der arabische Diwan", das erste große Buch seit langer Zeit zur vorislamischen arabischen Poesie herausgegeben. Sichtlich fasziniert hört ihm Lina Atfah zu, wie er aus dem Versepos von "Lailā und Madschnūn" rezitiert. Poesie ist für die arabische Welt enorm wichtig, darin sind sich alle Beteiligten einig. Sie bildet einen Resonanzboden, von dem auch jüngere Autor:innen wie Atfah und Alqalaq ausgehen. Sie ist das kulturelle Gedächtnis, in dem eine mehrtausendjährige Geschichte überlebt.


Das Literaturfestival Stuttgart "Über Leben" endet am Samstag, 24. Mai mit dem "Blütenrausch", dem Markt der unabhängigen Verlage. Bis dahin gibt es noch rund zwanzig Veranstaltungen hier gehtꞌs zum Programm.

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