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PEN in Tübingen

Nach der Spaltung

PEN in Tübingen: Nach der Spaltung
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Nach internen Zerwürfnissen probte der Schriftstellerverband PEN Deutschland in Tübingen den Neustart. Er will offener werden und verkrustete Strukturen angehen.

Es ist ein Neustart. Fast genau ein Jahr ist vergangen seit der Spaltung: Am 13. Mai 2022 kam das PEN-Zentrum Deutschland, der Schriftstellerverband des Landes mit Sitz in Dortmund, unverhofft in die Schlagzeilen: Deniz Yücel, deutsch-türkischer Journalist, in der Türkei verfolgt, Präsident des PEN seit Oktober 2021, warf sein Amt hin. Zuvor war seine Abwahl gescheitert. Yücel hatte sich für Waffenlieferungen in die Ukraine und eine Flugverbotszone über ihr ausgesprochen. Im PEN brachen Dämme, persönliche Differenzen, Mobbingvorwürfe kamen auf. Deniz Yücel nannte den Schriftstellerverein eine "Bratwurstbude", geleitet von "Wichtigtuern" und gründete seinen eigenen Verein, den PEN Berlin.

Ein Jahr später sitzen José F.A. Oliver und Michael C. J. Landgraf im Rathaus der Universitätsstadt Tübingen und sprechen über die Neuaufstellung ihres Vereins. Oliver, Lyriker aus Hausach im Schwarzwald, wurde im Oktober 2022 zum neuen Präsidenten des PEN gewählt; Landgraf, zuhause in Neustadt an der Weinstraße, fungiert als Generalsekretär. Beide möchten eine generelle Neuorientierung des Schriftstellerverbandes erreichen, denken nach über strukturelle Veränderungen, darüber, ob Schriftsteller in einem Verein funktionieren können, darüber, welche Alternativen denkbar sind.

"Ein wichtiger Punkt", so José Oliver, "ist die Frage, ob die Organisationsform eines Vereins überhaupt noch zeitgemäß ist oder ob wir andere Formen finden müssen, der PEN sich in Zukunft ganz anders organisieren sollte." Im Moment hätten sie allerdings überhaupt keine andere Chance, als mit diesen Strukturen zu arbeiten. "Das geht nicht von heute auf morgen."

Laut Michael Landgraf sei ein Verein "eine Struktur, die einem deutschen Wesen entspricht. Damit sind wir gewachsen." Zudem sei es sehr wichtig, den Vorteil der Gemeinnützigkeit zu behalten. "Dem Verein haftet ein Klischee an, man denkt gleich an die Vereinsmeierei. Aber: Verein kann man oder kann man nicht. Manchmal stehen Personen an der Spitze, die können Verein nicht."

Die Literatur soll zu den Menschen kommen

Oliver und Landgraf sehen sich als erfahrene Vereinsspieler. José F.A. Oliver wuchs im Schwarzwald auf, etablierte in der Kleinstadt Hausach ein Literaturfestival, das jährlich Tausende in den Ort zieht. Michael Landgraf lebt in Neustadt an der Weinstraße, leitet ein religionspädagogisches Zentrum und ein Bibelmuseum. Beide haben gelernt, Strukturen zielgerichtet zu nutzen. Ihr Vorsatz ist es, das selbstbezogene Vereinsleben der Schriftsteller nach außen zu wenden – ein Plan, für den Tübingen nun erste Probe war. Die Literatur, so ihr Wunsch, soll zu den Menschen kommen, ein auch regionales Gesicht bekommen.

Seit Januar bereitete der PEN den Tübinger Auftritt vor, weitete die Mitgliederversammlung erstmals aus zu einer Tagung. Lediglich die eigentliche Mitgliederversammlung fand in geschlossenem Rahmen statt; um sie herum organisierte der PEN vom 15. Bis zum 22. Mai Lesungen und Diskussionen in enger Zusammenarbeit mit örtlichen Institutionen, an der Universität, an Tübinger Schulen, im Rathaus, der Stiftskirche. Das Kino Arsenal und der Club Voltaire waren mit im Boot: "Wir haben überall offene Türen eingerannt", sagt Oliver.

Den Auftakt all dessen bildete ein Gespräch zwischen ihm und Nancy Hünger, Leiterin des Studio Literatur und Theater an der Eberhard-Karls-Universität – und Mitglied des PEN Berlin. Ein Gespräch zwischen entfremdeten Gruppierungen also – ein erster Brückenschlag, der Versuch einer Versöhnung? "Es war ein sehr offenes Gespräch", berichtet Oliver. "Nancy Hünger und ich kennen uns seit vielen Jahren und schätzen unsere Arbeit gegenseitig. So weit auseinander liegen wir nicht." Inhaltlich, so José Oliver, stehe man sich nahe, strukturell gebe es noch Differenzen.

An strukturellen Fragen arbeitete sich der PEN Deutschland in Tübingen deutlich ab. Die Öffnung der Tagung ins städtische Leben hinein soll Vorbild sein für künftige Treffen in anderen Städten: mit jeweils intensiver Vorbereitung, Auseinandersetzung mit den lokalen Strukturen. Der PEN möchte seinen Autor:innen eine Präsenz vor Ort geben, die Literatur ins Leben hineintragen, ihr Orte im jeweiligen Stadtbild geben. In Tübingen diskutierten die Schriftsteller:innen, Dichterinnen:innen, Journalist:innen, Wissenschaftler:innen über die Situation in Israel, Afghanistan; Stipendiat:innen des PEN-Programms "Writers in Exile" stellten sich vor, die in ihrer Heimat verfolgt werden – all dies unter einem Tagungsmotto, das zurückgeht auf Walter Jens: "Verteidigung von Kunst, Traum und Phantasie".

PEN und PEN nähern sich an

Dabei zeigte sich laut Oliver, wie die direkte Vermittlung der Literatur zuträglich sein kann: "Stella Nyanzi, eine Autorin und Genderforscherin aus Uganda, erzählte von ihrer Inhaftierung, von der Angst, ihre Mutterschaft könne ihr entzogen werden, von ihrem Entschluss, ins Exil nach Kenia zu gehen, davon, wie ihr Kind nach ihrem zweiten Gefängnisaufenthalt zu ihr sagte: 'Mama, du bist gar nicht mehr so wie früher'. Dawood Siawash, Autor und Journalist aus Afghanistan, war nicht in der Lage, sein Gedicht vorzutragen. Er hatte seinen Sohn bei einem Bombenattentat verloren und ein Trauma erlitten. Diese Lesung fand in einer Schule statt. Die Schüler fragten, wie es sei, in einem Gefängnis zu sein. Wenn man so etwas aus dem Munde von Betroffenen hört, die einem gegenübersitzen, dann ist das etwas ganz anderes."

Der PEN Deutschland also sieht sich im Wandel. Nach Tübingen stehen viele Ideen, viele Vorhaben im Raum. Auch die jüngere Generation soll – in einem Verein, dem es nicht an Nachwuchs mangelt – stärker in den Mittelpunkt rücken. Ein Traum des neuen PEN-Präsidenten ist ein junger PEN, analog zum Netzwerk der jungen Literaturhäuser.

Noch während der Tübinger Tagung des PEN Deutschland erging in der Türkei ein erneuter Haftbefehl gegen Deniz Yücel. José Oliver äußerte seine Missbilligung: "Recep Tayyip Erdògan höhlt als selbstherrlicher Gebieter demokratische Grundsätze drakonisch aus und instrumentalisiert die Justiz der türkischen Republik für seine Zwecke", so der Text einer Pressemitteilung des PEN-Präsidenten. Oliver forderte die sofortige Einstellung des Verfahrens gegen Yücel.

Eva Menasse indes, die Sprecherin des PEN Berlin, berichtet José F.A. Oliver, habe eine Einladung nach Tübingen höflich zurückgewiesen – aus Zeitgründen –, aber um ein baldiges Gespräch gebeten. "Gestern", so Oliver, "wurde ich gefragt, ob ich an eine Wiedervereinigung des PEN glauben würde. Ich sagte: Nein, aber an eine Neuvereinigung."


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2 Kommentare verfügbar

  • Jutta Rumler
    am 24.05.2023
    Antworten
    Hier wurde Darmstadt mit Dortmund velwechsert.
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